Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh'n;
ich werde den Letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

R. M. Rilke - Das Stundenbuch

 

Rainer Maria Rilke, geboren am 4.12.1875 in Prag, 
am 29.12.1926 in Valmont (Schweiz) an Leukämie gestorben.


Das Stundenbuch

...bekam ich unmittelbar nach der Krebsdiagnose von meinem damaligen Oberarzt geschenkt. Die Tuschezeichnung, später Logo der Feldbogenschützen Rhede, fertigte ich ungefähr zur gleichen Zeit an: Der übertrieben breitbeinige Stand steht für den "stable stand" des Bogenschützen, für den stabilen, festen Stand (-punkt), der Bogen für die Ausrichtung, das Ziel. Die Spirale, der "wachsende Ring", ist ein uraltes Symbol für geistiges Wachstum.

Rilke hatte eine Leukämie wie ich und ist daran gestorben; ich werde an (oder mit ;-) meiner Leukämie sterben - was soll's? Es gibt ein Leben vor dem Tod, das ist sicher! Spekulationen über den Tod hinaus sind Theologie, und die überlasse ich Päpsten und ähnlich kompetenten Leuten in Glaubensdingen. Ich habe ein Leben, und das gilt es zu leben.  Solange das so ist werde ich tun, was zu tun ist, werde ich mich mühen, "dass das Bäumchen treibt...". Ja - ich werde auch scheitern... Und immer, wenn ich müde werde, wenn ich zaudere, zweifle, hadere kommt mir Rilkes Satz in den Sinn:

"...aber versuchen will ich ihn!"

Ich bin davon überzeugt, dass dieses trotzige "aber ich will es versuchen" mich weiter leben lässt. Wichtig ist mir hier das "aber": Das ist kein depressives "Ja - aber", keine Ausflucht, kein Haken, der geschlagen wird. Dieses "aber" steht für die Akzeptanz der Fakten, für die Bejahung der Realität: Ja, ich werde sterben!  Und gleichzeitig steht es für eine ganz simple Haltung:

 "...und ich werde leben bis dahin!"

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Ob ich das Leben lachend oder weinend verbringe,
es ist die gleiche Zeitspanne.

Dieser Gedanke, ich glaube aus dem Indischen, hat mich in der damaligen Krisensituation ebenfalls sehr berührt.  Er hat mich an einen Scheideweg geführt... Heute bin ich froh, den Weg des Lachens gewählt zu haben. Das Leben ist doch viel leichter mit einer kleinen Prise Humor zu ertragen, und manchmal wirkt ein pantagruelisches Gelächter wie eine übergroße, gargantuahafte Dosis Schnupftabak: Man rotzt und prustet den Frust über die eigene himalajagroße Dummheit - und die des Rests der Menschheit -  einfach hinaus... ;-)

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Death Row...

Als Krebspatient wird man schnell bemitleidet und abgeschrieben: Death Row, Todestrakt...

 ...als ob diejenigen, die da Mitleid an den Tag legen, nicht auch todgeweiht wären! Es ist doch eine Binsenweisheit, dass alles, was geboren wurde, auch sterben muss. Woher nehmen zwei Menschen das Vertrauen in die abendliche Versöhnung, wenn sie sich morgens im Streit trennen? 

Den Imperatoren Roms flüsterte ein Sklave ins Ohr: "Bedenke, dass du ein Sterblicher bist!" Mir wurde die Tatsache der Sterblichkeit erst im Augenblick der Krebsdiagnose bewusst: Ich hatte bis dahin keinen Gedanken daran verschwendet, hatte auch keine Zeit dafür.

Wir verdrängen! Wir verdrängen die Realität, wir meinen, wir könnten immerzu nur einatmen, könnten immerzu so weitermachen... Nein: Das einzig Beständige ist der Wechsel! Die Natur lebt den Rhythmus des Werdens und des Vergehens! Das Atmen, das Ein- und Ausatmen, ist eine gute Übung ... Üben wir gemeinsam - für den letzten Atemzug! Genießen wir den Wechsel, solange es möglich ist...

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Freund Hein

Bin ich nicht in gewisser Weise lebendiger als die, die nicht versuchen, aus sich heraus sich selbst zu helfen? Wenn es Münchhausen gelang, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, dann müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn mir das nicht auch gelänge!  Schließlich bin ich ein Narr, ein Schalk, ein Schalksnarr, zumindest wenn ich im Gewand stecke... Und wenn es nicht gelingt, dann habe ich es doch versucht... 

Ich bekämpfe den Krebs, nicht den Tod. Wer wollte den Tod bekämpfen? Der Krebs ist der Feind, nicht Freund Hein! Der nimmt meine Hand, wenn ich erschöpft bin vom Kampf, wenn ich Ruhe, einen guten Schlaf brauche. Mag sein, dass ich träumen werde: Der Tod ist nur ein anderer Traum...

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Zeit

Das Leben hat sich für mich seit der Krebsdiagnose radikal gewandelt: Ich habe keine Zeit mehr, zumindest nicht für Spielchen, für Schwanzlängenvergleiche. Dieses Herumtändeln, diese modische Unverbindlichkeit widert mich an: Pure Zeitverschwendung!

Das Wort hat großen Wert für mich bekommen: 

Wenn ich "A" sage, meine ich auch "A".
Vielleicht verletzt "A", aber ich habe keine Zeit zu Schleimen.
Wenn ich "A" sage, meine ich "A"! 
Wer "B" sagt und "B" meint, mit dem kann ich umgehen:
Ich werde mich an ihm reiben bis zum "AB", bis zum Kompromiss.
Wer aber "Apfel" sagt und "Birne" meint,
der kann mir gestohlen bleiben: 
Zeitverschwendung. 

"Deine Rede sei 'Ja - Ja' und 'Nein - Nein'!" Guter Satz, könnte von mir sein!

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Damokles

Damokles, der Bursche, über dessen Kopf ein Schwert an einem Pferdehaar hängt und der sich davon den Appetit verderben lässt... Du dummer Junge! Statt ängstlich auf das Schwert zu starren solltest du dir lieber klar machen, was es meint!

Sei dankbar für den Wink mit dem Zaunpfahl, nicht mehr und nicht weniger ist das Schwert. Nutze den Tag, lebe dein Leben und sei ohne Angst: Es ist noch niemand vor seiner Zeit gestorben. Aber es gibt keinen größeren Jammer als im letzten Atemzug an verpasste Gelegenheiten denken zu müssen. Das Schwert begleitet uns immer, sichtbar oder unsichtbar.

Du kannst es als Bedrohung sehen und dich einschüchtern lassen - oder es als Inspiration betrachten: Vielleicht bekommst du nie wieder die Chance, Dieses oder Jenes zu tun - wenn du es nicht jetzt, hier und heute tust. Das Schwert kann entmutigen - oder gerade auch ermutigen.

"Der Tod ist sicher, aber die Stunde ist ungewiss."  Akzeptiere das, statt dir ständig ins Hemd zu machen. Hast du das akzeptiert, kannst du leben - mit ungeahnter Intensität.

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Hoka Hey!

... der Kriegsschrei der Plains-Indianer. 
Hoka Hey bedeutet: "Heute ist ein guter Tag zu Sterben!" 

Gemeinhin wird diesem "Hoka Hey!" folgende übertragene Bedeutung zugeschrieben:
Tu alles, als ob es deine letzte Chance wäre! 

Ich möchte einen Schritt weitergehen:

Lebe dein Leben so, dass jeder Tag ein guter Tag zum Sterben ist!


Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh'n;
ich werde den Letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

                                                                            R.M. Rilke - Das Stundenbuch