"Do der gelb Fleck ist und mit dem Finger drawff dewt, do ist mir we." AD
"...do ist mir we."

Die Schwellung der Milz, der Milztumor, führte bei mir zur Leukämie-Diagnose.

Albrecht Dürer (1471-1528) infizierte sich vermutlich 1520 mit der Malaria. In einem Brief an einen Arzt deutet er auf seine schmerzende Milz.

 


03.01.04

Seit geraumer Zeit habe ich das Gefühl, diesen Text schreiben zu müssen, und seit geraumer Zeit schiebe ich diese Arbeit beiseite: Ich kenne den Weg, der hinter mir liegt, warum ohne Not Durchlittenes erneut durchleiden?

Im Dezember 2003 gibt jemand "sterben leukämie" bei Google ein und landet damit auf meiner "Hoka Hey!"-Seite. Ich erinnere mich, wie es damals war, wie ich mich fühlte mit dem frischen "Todesurteil", damals, vor zehn Jahren... Ich erinnere mich an den Verlust der Perspektive, den Verlust der Zukunft. Ich erinnere mich daran, wie ich den Halt verlor, den der Beruf für mich bedeutete. Und ich erinnere mich daran, wie ich den Halt, die Perspektive zurückeroberte.  Ich hoffe, dass ich mit diesem Text eines verständlich machen kann: Es geht! Man kann klarkommen mit einer Krebsdiagnose, man kann leben damit. Es ist fatal, die Flinte vor der Zeit ins Korn zu werfen. Ich hätte diesen Fehler beinahe gemacht...

Möglich, dass wieder jemand "sterben leukämie" bei Google eingibt. Dann soll er auf dieser Seite einen Text finden, der mit "leben leukämie" viel besser beschrieben wäre.


Vorgeschichte

Die üblichen Kinderkrankheiten: Windpocken, Masern, Mumps. Mit 18 Jahren Blindwurmentzündung, mit 26 Jahren - etwas ungewöhnlich - eine Tropische Sprue. Diese Tropenkrankheit hatte ich mir während einer Auslandsfamulatur in Indien eingefangen. Der Darminfekt heilt nach der Rückkehr unter entsprechender Behandlung mit einem Antibiotikum aus. Der rapide Gewichtsverlust führt allerdings - als Folge der damit verbundenen Dünnhäutigkeit - zu einer ernsthaften seelischen Krise und der Überlegung, das Studium zu schmeißen. Kurve gekriegt, Studium abgeschlossen.

Berufsleben und erste Symptome

Der Traum von einer chirurgischen Stelle geht zunächst nicht in Erfüllung: Arbeit als Assistent in der Anästhesie. Dann doch Glück: Wechsel in eine chirurgische Abteilung. Die Arbeit ist die schiere Lust, ich blühe auf. Zu meiner Überraschung stelle ich während eines Bogenturniers im Wiehengebirge fest, dass ich massive Probleme habe, den Parcours zu bewältigen. Ich habe an diesem Turnier seit Jahr und Tag mit viel Spaß teilgenommen und nie Probleme mit dem Gelände gehabt. Jetzt keuche ich den Berg hinauf, benutze den Bogen als Gehhilfe und bin froh, wenn wir auflaufen und so zu einer Pause gezwungen werden.

"Überarbeitet," sage ich mir, "zu viele Dienste!" In der Folgezeit versuche ich, mehr Notarztdienste zu machen: Da pendelt man nicht die ganze Zeit wie ein Eichhörnchen zwischen Ambulanz und Station. Und doch: Die Kollegen erzählen von Radtouren nach der Arbeit, von sportlichen Aktivitäten. Ich bin froh, wenn ich mich nach Feierabend ins Bett legen kann... Nach drei Jahren, der halben Ausbildungszeit, muss eine bittere Entscheidung getroffen werden: Offensichtlich überfordert mich die Chirurgie körperlich. Ein schwarzer Tag, als ich das Haus verlasse: Das war mein Lebenstraum.

Ich trete in einer internistischen Abteilung an: Aus mir soll nun ein Allgemeinmediziner werden, da ist noch in geringem Umfang chirurgische Tätigkeit möglich. Dass ich mich vor der Arbeit übergeben muss führe ich auf das Mobbing durch den Chefarzt zurück: Alle Assistenten vor mir sollen diese Sonderbehandlung erfahren haben. Aber ich sehe deutlich, dass ich die Arbeit nicht ordentlich bewältige: Ich werde schlechter und schlechter, die Angriffe immer heftiger: Eine Spirale abwärts...

Wechsel in eine psychosomatische Klinik. Ich möchte auf diesem Gebiet meine Erfahrung vor der Niederlassung vertiefen: Der Anteil psychosomatischer Patienten in der allgemeinmedizinischer Praxis ist groß. Ich habe einen Draht zu diesen Patienten und war schon in meiner chirurgischen Zeit für sie zuständig. Ich liebe dieses Fach: Körper, Geist und Seele werden wahrgenommen und behandelt. Es mag etwas ungewöhnlich sein, dass ein Chirurg, ein Handwerker, eine Antenne hat für Patienten, die seelische Konflikte körperlich ausdrücken: Es ist, wie es ist. Ich finde mich gut zurecht, im Team, mit den Patienten, in der Klinik, bin gut eingebunden.

Der Betriebsarzt möchte mich sehen: Aufnahmeuntersuchung. Im Vorfeld wird eine Blutprobe entnommen, das Resultat landet in meinem Fach. Komische Werte! Ich bin leicht erkältet und wiederhole nach 14 Tagen den Test. Diesmal finden sich "atypische Zellen" im Blutbild. Ich denke zunächst an ein Pfeiffersches Drüsenfieber, schneide dann aber den Kopf mit meinen Daten ab und lege den Befund einer Kollegin vor. "Das sieht aber nicht gut aus!" sagt sie. "Da sollte man aber dringend ein wenig Diagnostik machen!"

Nachmittags der Besuch beim Betriebsarzt. Er wirft einen kurzen Blick auf die Werte, tastet einmal leicht auf den Bauch - und äußert den diffusen Verdacht auf eine "Raumforderung". Er rät mir, einen Onkologen aufzusuchen. Benommen verlasse ich den Raum, rufe einen mir bekannten Onkologen an und vereinbare einen Termin für den späten Nachmittag. Ich tausche den Dienst, den ich an diesem Tag habe, und fahre los.

Diagnose (März 1992)

Anamnese, eingehende klinische Untersuchung, erneute Blutentnahme, Ultraschall: In weniger als einer Stunde habe ich Gewissheit: Ein riesiger Milztumor und typische Veränderungen des Blutbildes. Der Kollege gießt mir reinen Wein ein. Er redet, und es ist, als ob ich mich in einem Aufzug befinde, der mit Watte ausgestopft ist: Ich kann kaum hören, was er sagt. Aber ich spüre, wie die Seile durchschnitten werden, die den Aufzug halten - und ich stürze und stürze und der Sturz wird nicht aufgefangen... 

Erste Reaktionen

Mein Auto fährt mich nach Hause. Ich setzte mich hin und versuche, Klarheit in meinem Kopf zu bekommen. Es bleibt beim Versuch. Dann der Griff zum Telefon: Ich melde mich für die nächsten 14 Tage im Krankenhaus ab: Die Zeit wird für Diagnostik benötigt.

Suse, meine dicke Neufundländer-Lady, spürt, das etwas nicht stimmt: Sie weicht nicht von meiner Seite. Drei Jahre später wird mir dieses Verhalten das Leben retten. Am nächsten Tag, beim Spaziergang mit Suse, nehme ich meine Umgebung überdeutlich wahr: Das Grün der Bäume, das Gezwitscher der Vögel - das soll jetzt bald vorbei sein?

Diagnostik und Therapieplanung

Nach der ersten Diagnostik geht es in den nächsten 14 Tagen darum, möglichst viele Informationen zu sammeln, um eine optimale Therapie einleiten zu können. Unangenehm ist die Beckenkammstanze: Die Punktion der Knochenmarkhöhle drückt, ist aber völlig schmerzlos; der Unterdruck beim Ansaugen des Knochenmarks löst einen stechenden Schmerz aus, der mich an meine erste Erfahrung mit einem Weidezaun erinnert. Im CT kommt ein monströser Milztumor zur Darstellung, der bis ins kleine Becken reicht und das ganze Darmpaket zur Mittellinie verschoben hat. Bei diesen Bildern wird mir klar, warum ich morgens spucken musste und warum ich Verdauungsprobleme hatte.

Die Richtung ist klar: Allein aus mechanischen Gründen muss die Milz 'raus. Der Onkologe steuert die exakte Diagnose bei: Niedrig malignes Non Hodgkin Lymphom (LP- Immunozytom), Stadium IVa. Er meint, die Reduzierung der Tumormasse durch Entfernung der Milz könne möglicherweise den Verlauf der Erkrankung bremsen. Soweit die guten Nachrichten. Die schlechte Nachricht: Eine Heilung sei derzeit leider noch nicht möglich.

In der Uniklinik hole ich eine zweite Meinung ein. Die Befunde sind eindeutig, die Diagnose wird bestätigt. Eine Bestrahlung der Milz wird vorgeschlagen, um sie vor der Operation zu verkleinern. Ich habe Strahlenbäuche gesehen und weiß, wie schwer es ist, in ihnen ordentlich zu arbeiten: Ich bin skeptisch! Ein Chirurg wird hinzugezogen: Auch er befürwortet die sofortige Operation ohne vorherige Bestrahlung. Ich suche meinen alten Chef auf und bitte ihn, mich zu operieren. Er stimmt zu - und versteht auf einmal, warum ich gegen Ende meiner Dienstzeit so abgebaut habe...

Mit den Kollegen in der Anästhesie wird vereinbart, vor der Operation einige Eigenblutkonserven zu gewinnen. Die Vorbereitungen sind weitgehend abgeschlossen, ich kann endlich wieder arbeiten. Arbeit ist etwas herrliches: Sie vertreibt dumme Gedanken und Sorgen. In meiner Rolle als Arzt kann ich meine Patientenrolle vergessen. Das schafft Distanz zu meinen Problemen, ich kann sie relativieren. Nach der Arbeit fahre ich von Zeit zu Zeit zur Eigenblutspende. Mir wird klar, dass ich nun für andere nicht mehr spenden kann: Schade!

Operation (Mai 1992: Splenektomie )

Es ist seltsam, auf der eigenen Station als Patient aufgenommen zu werden. Was für ein Luxus! Ich kenne die Leute und kann ihnen vertrauen: Ich weiß, was sie können. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, aber wie mag sich jemand in meiner Situation fühlen, dem hier alles fremd ist?

Die Anästhesistin kommt zur PräOP-Visite. Ich erkläre frank und frei, dass ich Angst habe und bitte um die Elefantenberuhigungsdröhnung. Am Abend, es ist Montag, bekomme ich meine Medizin und lege mich hin...

Am Donnerstagmittag komme ich auf der Intensivstation zu mir: Alles in Butter, wird mir signalisiert - und dass ich gleich auf die normale Station verlegt werde. Offensichtlich habe ich die schlimmste Zeit verpennt. Danke, Frau Kollegin! Ein gutes Stöffchen, das Sie mir da verabreicht haben! 

Die Operation war "nicht unkompliziert", der Blutverlust "nicht unerheblich". Ich bin - im wahrsten Sinne des Wortes - erleichtert: Die Milz wog 2,5 Kilogramm, also das 20fache der Norm, ein echter Klotz im Bauch. Immerhin erklären sich jetzt rückblickend die seit Jahren immer wieder aufgetretenen linksseitigen Rückenschmerzen: Nicht Verspannung, wie ich meinte, nicht Wirbelblockade, wie der Krankengymnast meinte - es war die zunehmende Spannung der Milzkapsel, die für die Schmerzen verantwortlich war. Man sollte meinen, dass mit der Ursache (Milz) auch die Wirkung (Schmerz) beseitigt ist. Falsch getippt: Vernarbungsprozesse sorgen dafür, dass der Schmerz in meiner "Gewitterecke" mein treuer Begleiter bleibt.

14 Tage Krankenhaus, dann vier Wochen daheim zur Erholung. Nach sechs Wochen bin ich wieder in der Psychosomatik. In der Konferenz Beifall und anerkennende Worte, und dann hat mich der Alltag endlich wieder - nur den Sicherheitsgurt vertrage ich noch nicht.

Kündigung

Ich denke um: Nicht der Niederlassung als Allgemeinmediziner, sondern der Arbeit als Klinikarzt gehört die Zukunft. Ich habe einen unbefristeten Vertrag, die Arbeit gefällt mir, ich bekomme von allen Seiten positive Rückmeldung. 14 Tage vor Ende der Probezeit werde ich zum Chef gerufen, auch der Verwaltungsdirektor ist anwesend.

           Ich müsse verstehen...
                   Die Entscheidung sei schwer gefallen...
                                                   Aber meine Gesundheit... 
                                                                 ...mögliche Fehlzeiten in der Zukunft... 
                                                                                     Leider müsse man sich von mir trennen...

Wieder diese Watte, wieder dieser Aufzug, der abstürzt. - Die Kollegen sind entrüstet. Sie bestehen darauf, dass die Kündigung zurückgenommen wird. Die Klinikleitung versichert, dass derartige Kündigungen nicht mehr vorkommen werden. Der Aufruhr beruhigt sich: "Ach so, ich nicht! Dann ist ja gut..." Ich packe meinen Karton und gehe. Die Schlichtungsverhandlung beim Bischof, in Caritashäusern vor der Einschaltung des Arbeitsgerichtes vorgeschrieben, verläuft in meinem Sinne: Ich bekomme Recht, werde wieder eingestellt. Noch in der Verhandlung kündige ich: Mit diesen Leuten kann und will ich nicht mehr zusammenarbeiten. Formuliert wird dann - ein Vergleich... Schäbig!

Fünf Säulen

Die Identität eines Menschen, seine Gestalt, ruht auf fünf Säulen:

Betrachten wir zu diesem Zeitpunkt den Stand der Dinge, dann wird es eng: Dass eine Krebsdiagnose die Säule Gesundheit bedroht, dürfte nicht diskussionswürdig sein. Eine Kündigung, der Verlust des Arbeitsplatzes, bedeutet für jeden, aber gerade auch für einen Gesundheitsarbeiter den Verlust der sozialen Aufgabe. Ein großer Teil des sozialen Umfeldes eines Assistenzarztes befindet sich im unmittelbaren Umfeld des Krankenhauses: Man ist ja fast ständig da. Welcher Arbeitgeber stellt einen Krebspatienten ein, wenn selbst einem Großkonzern wie der Caritas das Risiko zu groß ist. Welche Bank finanziert einem krebskranken Arzt die Praxisgründung? Soviel zum Thema soziale Sicherheit. In einer Situation, in der ich eine Säule verloren hatte und in der ich Stärkung gebraucht hätte wurden drei weitere Säulen vernichtet. Es blieben lediglich die Normen und Werte.

Und es sind diese Normen und Werte, die mich die nächsten Monate bewältigen lassen: Ich stehe kurz vor der Facharztprüfung, mir fehlt nur noch die Praxiszeit und die Prüfung. Ich bekomme eine Stelle als Praxisassistent, lege die Prüfung ab: Was man anfängt, das bringt man auch zu Ende!

Himmel und Hölle

Die nächsten zwei Jahre können treffend mit den Begriffen "Himmel und Hölle" beschrieben werden: Es stellt sich sehr schnell heraus, dass niemand ein Interesse am frischgebackenen Facharzt für Allgemeinmedizin hat. "Tut uns leid...", eine oft gehörte Phrase, die ich im Kopf vollende: "...aber wir können niemanden brauchen, der bald stirbt." 15 Jahre Ausbildung für die Katz. Zwei Monate nach der Facharztprüfung bin ich am Boden zerstört: Ein schwarzes Loch tut sich auf. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung verhindert den Absturz in die Sozialhilfe, mit 36 Jahren bin ich Rentner. Aber damit steht immerhin die Säule der sozialen Sicherheit wieder.

Einige Freunde bleiben, andere waren offensichtlich nie meine Freunde... Eine Aufgabe muss her, und ein neuer Freundeskreis. Während des Studiums hatte ich keine Zeit, eine Doktorarbeit zu schreiben, erst recht nicht während meines Arbeitslebens. Ich habe eine Idee, gehe damit ins zuständige Institut und kann überzeugen. Damit ist wieder eine Aufgabe da, die mich auch weiterhin mit der Medizin verbinden wird. Seit Jahren war es mein Traum, einen traditionellen Bogensportverein im Westmünsterland zu gründen. Jetzt suche ich Mitstreiter und  ein geeignetes Gelände. Nachdem etliche Hindernisse überwunden wurden können wir endlich loslegen. So weit, so gut.

Die Kehrseite der Medaille

Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass ich auf die Leukämie starre wie ein Kaninchen auf die Schlange. Es gelingt mir nicht, eine Vorstellung von Zukunft zu entwickeln. Anders formuliert: Ich beginne die Doktorarbeit, kann mir aber nicht vorstellen, sie abzuschließen. Ich bin Vorsitzender der Bogenschützen - aber auf Abruf! Bei jeder onkologischen Kontrolle erwarte ich das Schlimmste. Das Leben wird gallig, macht keinen Spaß mehr. Ich heirate meine langjährige Freundin, um ein halbes Jahr später vor den Scherben der Beziehung zu stehen: Das Hin und Her, das Auf und Ab war offensichtlich zu viel.

Dies ater

Schließlich kommt er, der "Dies ater", der schwarze Tag. Ich bin fertig mit der Welt, bin zerschlagen, wund: Ich kann und will nicht mehr. Verrückterweise ist es auch und gerade die Angst vor dem Sterben, die mich in den Freitod treibt. Freitod? Was ist frei an dieser Entscheidung? Es ist eher so, als ob das Kaninchen die Schlange reizt, endlich zu beißen, weil die Spannung unerträglich ist.

Wie am Tag nach der Diagnose gehe ich mit Suse eine Runde, es soll die letzte sein. Ich verabschiede mich, von den Bäumen, den Enten am Teich... Wieder Zuhause will ich den Schlussstrich ziehen, aber ich habe nicht mit Suse gerechnet: Sie weicht nicht von meiner Seite, weiß, was ich denke und plane - und verhindert es.

Heiligenfeld

Wenige Tage später werde ich in der psychotherapeutischen Fachklinik Heiligenfeld aufgenommen. Sechs Monate bleibe ich in dieser Gemeinschaft. Eine lange Zeit? Ich habe sehr viel zu lernen, unendlich viel nachzuholen. Es ist kein Zuckerschlecken, weder für mich noch für das Team. Oh, ich bin mir sehr sicher, dass das Team schließlich erleichtert ist, mich gehen zu sehen: Einerseits, weil ich mich gut gemacht habe, andererseits - weil ich gehe. Aber - und das ist für mich wichtig: Ich bin erleichtert! Heiligenfeld ist es gelungen, den Teufelskreis, in dem ich steckte, zu durchbrechen - und in einen Engelskreis zu verwandeln.

Nach Heiligenfeld

Ich kehre nicht in die alte Umgebung zurück. Ich nehme mir eine kleine Wohnung in der Stadt und lebe dort ein Jahr gemeinsam mit Suse. Eine sehr angenehme und produktive Zeit: Die Doktorarbeit macht gute Fortschritte.

Eine kleine, negative Episode: Meine Haare fallen aus. Schon völlig kahl endlich die Diagnose: Zinkmangel, und auf dieser Basis Bildung von Autoantikörpern gegen die Haarwurzeln. Nach anfänglicher Zinkgabe wieder mit der Fleischesserei begonnen. Ich hatte noch nie Locken, jetzt wachsen sie.

Nach einem Jahr habe ich die Stadt über, es zieht mich wieder aufs Land: Der freie Blick fehlt mir. Ich suche und finde ein kleines Hexenhäuschen am Ende der Welt und richte mich gemütlich ein. Der Verein läuft gut, inzwischen unter anderer Regie. Ich bekomme Anschluss an eine Pipe Band und erfüllte mir so einen Kindheitstraum. 

Suse

Suse wird alt. Eines Tages schneit Kasperle herein, ein sechs Monate alter Hütehundmischling, der dringend ein neues Heim braucht. Es ist, als ob Suse die Ankunft des jungen Hundes als Wachwechsel erlebt: Sie wird ruhiger und ruhiger, innerhalb von drei Monaten baut sie rapide ab. Der Tierarzt klärt mich auf: Leukämie. Es ist, als ob sie mir zeigen wollte, dass das Sterben an Leukämie kein Drama ist: Sie stirbt friedlich in meinen Armen. Ich denke, dass Suse sich schon zu Lebzeiten ihre Flügel redlich verdient hat: Sie war mein Schutzengel, ein Neufundländerengel.

Anke

Tausendmal berührt... Seit Jahr und Tag treffen wir uns im Wald und gehen gemeinsam Bogenschießen. Und dann funkt es auf einmal. Anke und ich verlieben uns ineinander und werden ein Paar. Anke zieht im nun gemeinsamen Hexenhäuschen ein. Kurze Zeit später folgt aus dem Tierheim Punchinello, ein übel misshandelter Terriermischling. Er sorgt ab sofort dafür, dass immer irgendetwas in Bewegung ist.

Millenium

Das neue Jahrtausend beginnt: Ich bin überrascht, habe absolut nicht damit gerechnet, das Jahr 2000 zu erleben.

Hochzeit

Das Sommerfest 2000 muss ausfallen: Es wird geheiratet. Wie bei den Sommerfesten in den Jahren zuvor sind Bogenschützen, Pipe Bands, selbst die Rheder Ritter da und feiern um die Wette. Eine herrliche Hochzeit, im Garten, im Zelt - pralles, dralles Leben...

Wenig später, während eines Auftrittes mit der Band, habe ich dann zunehmende Probleme mit dem Gewicht der Trommel. Am Ende bin ich nicht mehr in der Lage, die Bass zum Wagen zurückzutragen. Ich weiß, was das bedeutet...

1. Chemotherapie 
              (Oktober 2000 bis Februar 2001: CHOP)

Nach Heiligenfeld hatte ich "mein Leben gelebt", mich nicht mehr verrückt gemacht, gut gearbeitet, gut gelebt und die onkologischen Kontrollen recht lax gehandhabt. Nun habe ich massive Probleme, die Treppe hochzukommen: Bei der dritten Stufe muss ich eine Pause einlegen: Keine Kraft, keine Luft - und Wasserfälle in den Ohren. Die Leukos haben sich klammheimlich und peu à peu vermehrt und dabei die anderen Zellen im Knochenmark verdrängt: ("Verdrängungsmyelopathie"). Zwar sind alle gesunden Zellen deutlich erniedrigt, aber Beschwerden machen lediglich die fehlenden "Roten": Die fehlenden Sauerstoffträger führen zu den typischen Anämie-Symptomen: Leistungseinbruch, Müdigkeit, Atemnot.

Nach zwei Blutkonserven (Herzlichen Dank an die Spender!) habe ich wieder ausreichend Luft und Kraft, werde wieder mobil. Die Chemotherapie verläuft anfangs völlig anders, als ich sie mir vorgestellt hatte, nämlich unspektakulär. Nach kurzer Zeit ärgere ich mich, dass ich mir vorbeugend den Schädel kahlgeschoren habe: Ich wollte einfach nicht wieder überall herumflusen. Aber der Haarausfall bleibt aus.

Nach der Therapie bin ich jeweils rechtschaffen müde, aber das kann auch von den intensiven Gesprächen mit den anderen Patienten in der onkologischen Ambulanz herrühren - und natürlich auch vom vielen Lachen. 

Alles läuft prima - bis zu diesem kleinen Unfall mit seinen weitreichenden Folgen: Die Vene platzt, und vier Milliliter einer sehr aggressiven Substanz laufen in das umliegende Gewebe. Trotz sofort eingeleiteter Gegenmaßnahmen kommt es in den folgenden Tagen zu einem massiven Zerfall der Unterarmmuskulatur, verbunden mit einer massiven Entzündung, die natürlich über Wochen massive Schmerzen mit sich bringt. Dumm gelaufen. Glücklicherweise bleibt der Arm geschlossen, es entwickelt sich kein Geschwür. Die Schmerzen klingen ab, die Muskulatur wird durch Narbengewebe ersetzt. Aber die wochenlange Schonhaltung führt dazu, dass die Schulter einfriert. Viel Krankengymnastik und noch mehr Gartenarbeit mobilisieren die Schulter wieder, aber sie quält  mich bis auf den heutigen Tag  und schränkt das Bogenschießen maximal ein.

Aber habe ich Grund zu klagen? Die pathologischen Zellen werden zurückgedrängt, das Knochenmark nimmt die Produktion gesunder Zellen wieder auf, ich komme zu Kräften. Sichtbarster Beleg: Ich kann wieder pfeifend und zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufstürmen. Was will ich mehr? Heilung ist mir nie versprochen worden, wohl aber Zeit und Lebensqualität. Die Schulter schmerzt, ja und? Wo gehobelt wird, da fallen Späne, nicht war? Lieber Schulterschmerzen als Atemnot, lieber Arm dran als Arm ab (...was durchaus hätte passieren können). Ich bin dankbar über den glücklichen Ausgang und darüber, mit allen Einschränkungen, die man finden mag, eines wieder zu können: Mein Leben genießen.

Nach der Chemo

Ich erhole mich gut. Wir fahren in die Sonne, weil ich doch ein wenig den Frost in den Knochen habe. Anke verknackst sich gleich in den ersten Tagen einen Fuß: Es wird ein wirklich ruhiger Urlaub.

Wir leben unser Leben, und es ist gut so. Die Arbeit macht Spaß, von den monoton wiederkehrenden Pflichten eines Hausmannes einmal abgesehen. Es könnte ewig so weitergehen, tut es aber nicht.

2. Chemotherapie 
              (Februar bis Juni 2002: Fludarabin)

Diesmal keine "Verdrängung": Die Zellen steigen so schnell, dass das restliche Blutbild kaum in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Probleme, die ich nun habe, hängen eher mit der Viskosität des Blutes zusammen: Die Pampe wird so zähflüssig, dass sie nicht ordentlich um die Ecken kommt.

Nach den Erfahrungen mit der ersten Chemo, ich spreche hier auf den Unfall und die damit verbundenen Schmerzen an, habe ich einen mächtigen Kloß im Hals, als ich mich morgens in den Wagen setze, um zur Klinik zu fahren. Ich lege eine CD ein - "Blue Bonnets O'er the Border" vom "1st. Battalion King's Own Scottish Borderers" - und der Tag beginnt mit einem Bugle Call: "Rouse" - ein Weckruf. Danach ein March Set: "Johnnie Cope - Brose and Butter - Jennie's Bawbee". Nach drei Minuten ist der Spaß vorbei- und ich bin irritiert. Ich drücke die Repeat-Taste und stelle etwas lauter. Ich wiederhole dieses eine Stück wieder und wieder und eine langsam aufsteigende Wut verdrängt den Kloß im Hals mehr und mehr. Als ich am Krankenhaus ankomme spielt "Johnnie Cope" auf Pipe Band Lautstärke und ich stürme wie ein wütender Stier in die onkologische Ambulanz: "Was bilden die sich eigentlich ein, diese dämlichen Zellen!? Mich fertig machen? Da müssen sie aber früher aufstehen! Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Her mit der Nadel, 'rein mit dem Stoff! Wollen wir doch mal sehen, wer die Runde macht!"

Es ist ja eigentlich nur der erste Tag, der so belastet ist. Natürlich ist da Angst - man weiß ja nicht, wie man das Zeug verträgt. Wer da den starken Maxe gibt, der macht sich selbst und anderen was vor.

Es sind schon feine Leute, die hier auf Zeit zu Weggefährten werden. Jedem  hier ist klar, dass es an die Substanz geht. Jeder hat seine Not, seine Hoffnung. Ernste Leute, die - wenn sie lachen - es von Herzen tun. Brüder und Schwestern im Geiste... Dünnhäutig, feinsinnig, ehrlich. Keine Lügen: Es wird mit offenem Visier gesprochen. Sehr alte Menschen, erschreckend junge...

Die Chemo gestaltet sich völlig unkompliziert: Ein bisschen Müdigkeit, keine Probleme. Erst später werde ich feststellen, dass das Zahnfleisch gelitten hat: Die Zähne werden wackelig, und eine Sanierung wird fällig: Heute trage ich eine Prothese.

Wie ich in die Chemo hineingegangen bin, so komme ich heraus: Nicht wütend wie ein Stier, sondern so kräftig. Gut, wir müssen das relativieren: Vielleicht so stark wie ein einjähriger Stier. Nein? OK: ...wie ein Stierkalb. ;-)

Im Ernst: Es ist schon toll, wenn der Körper auf die Medikamente anspricht. Es ist schon toll, wenn diese Tür aufgestoßen wird, die Tür zum Leben.

Kryoglobuline

Nach der zweiten Chemo tritt ein neues Symptom in den Vordergrund. Zurückblickend hat mich schon in den ersten Jahren dieser ständige Juckreiz geärgert, aber ich dachte, Ursache dafür sei trockene Haut. Anfang Mai werde ich beim Bogenschießen auf meine blauen Ohren angesprochen. Ich liebe es, barfuss durch das taunasse Gras zu gehen: Eine herrliche Erfrischung und ein wunderbarer Start in den Tag. Jetzt werden meine Zehen blau. Ich kann nicht mehr die Zeitung von der Straße holen: Der Juckreiz wird so stark, dass ich mir das Fell vom Leib ziehen möchte. Das alles im Sommer... Ich scheine eine magische Anziehungskraft auf alle stechenden Insekten auszuüben: Sie fressen mich regelrecht auf.

Nach der dritten Blutentnahme, die ersten beiden sind einfach geronnen, die Diagnose: Kryoglobuline, Eiweißmoleküle, die von den pathologischen Lymphozyten produziert werden und in Abhängigkeit von der Temperatur ihre Form verändern. Sinkt die Temperaturen kommt es zur Verstopfung der kleinen Gefäße, "das Blut stockt". Das Gewebe in diesen abgeschnittenen Arealen entzieht den roten Blutzellen den Sauerstoff und wird blau. Dies geschieht natürlich an den Akren - also Füße, Hände, Ohren, Nase -  am stärksten, da sie am schnellsten auskühlen. Im August muss ich Abends eine Pudelmütze aufsetzen. Trotzdem bin ich froh, dass es kühler wird: Die Belästigung durch Mücken und Stechfliegen lässt nach.

Aber nun juckt das Fell wegen der Kälte, und nach der Runde mit den Hunden muss ich zunächst die Hände und dann die Füße in heißem Wasser auftauen. Selbst bei normaler Raumtemperatur sterben mir am Schreibtisch die Zehen ab. Ich stelle fest, dass 18° C meine untere Schwelle ist. Und so sitze ich hier, gekleidet nach dem Zwiebelschalenprinzip, und die Füße stecken in dicken Arktisstiefeln. Und es ist gut so: Ich lebe, und die immer neuen Probleme, die auftreten, werden mit Witz gelöst.

Und weiter?

Trotz aller Widerstände ist das Leben doch ein wunderbares Geschenk. Gerade wenn die Selbstverständlichkeit, mit der man normalerweise das Leben nimmt, abhanden gekommen ist, bekommt man eine Idee davon, wie kostbar diese kurze Spanne ist, die uns zur Verfügung steht.  Und darum legt man sich noch mal so sehr ins Zeug und versucht, dieses geschenkte Leben ordentlich zu nutzen. Aus meiner Sicht ist das Leben eine einmalige Chance. Ich mag nicht an Paradiese oder Wiedergeburt glauben. Wir kommen in diese Welt, haben unsere Zeit und verlassen sie dann. Es gilt, diese Zeit zu nutzen. Für mich ist Leben Arbeit, und immer geht es darum, die Welt etwas besser, freundlicher zu gestalten. Generationen  haben vor uns den Buckel krumm gemacht - für uns. Ich denke, wir sollten unser Teil tun - für die Generationen nach uns. Und Arbeit ist nicht Zwang, Arbeit geschieht auch nicht unbedingt an einem Arbeitsplatz. Arbeit bedeutet Engagement, Sorgfalt, Liebe...

In den letzten Monaten sind die Leukos rasant angestiegen. Seit dem letzten Sommer hat sich eine zunehmende Schwellung der Lymphknoten eingestellt. In wenigen Tagen rollt wieder die Diagnosemaschine an, und Mitte nächster Woche beginnt die dritte Chemo: Diesmal fangen wir früh an - warum den Körper unnötig belasten. Ich hoffe, wieder etwas Zeit zu gewinnen, und wenn nicht: Suse hat mir den Weg gezeigt. Es ist, wie es ist.

Ansonsten aber kann meine Haltung treffend durch die folgenden Zeilen beschrieben werden:

Und sollte morgen die Welt untergehn –
ich pflanzte heute noch ein Bäumchen ein,
bezahlte Schulden, da wo sie bestehn,
und wollt mit Gott und Welt im reinen sein.

Solange mir noch Atem bleibt,
will ich mich nicht zur Ruhe legen,
mich mühen, daß das Bäumchen treibt
und Gottes gute Schöpfung pflegen.

Noch habe ich Gelegenheit,
mit meinen Worten, meinen Taten
die Liebe und Gerechtigkeit,
dich ich noch schulde, zu erstatten.

Ich wage nicht, mich vor der Zeit
aus Gottes Arbeit fortzustehlen.
Wer sich auf Gottes Himmel freut,
darf nicht auf seiner Erde fehlen.

Was ich hier tu, genügt noch nicht;
erst Jesus wird die Welt verwandeln.
Doch bis sein großer Tag anbricht,
soll ich in seinem Namen handeln.

Manfred Siebald

 

Anmerkung:  
In meinen Augen macht es keinen Unterschied, ob hier Gott, Allah, Großer Geist, Brahma oder Tao steht: Es wird wohl klar, was gemeint ist. Ich persönlich würde statt "Gott" lieber "Mutter Erde" und statt "Jesus" lieber "Buddha" einsetzen - aber das soll jeder halten, wie er will.


Nachtrag: 
Aktuelle Neuigkeiten finden sich in meinem Tagebuch