Tagebuch

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Das Tagebuch habe ich ursprünglich als Journal geführt, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Aber peu à peu bekam es persönlichen Charakter. Sei's drum: Es wandeln die Zeiten...


16.12.04

Die Laborwerte gestern sahen nicht übel aus: Das Knochenmark scheint wirklich zunehmend die Produktion wieder aufzunehmen. Wunderbar: Der  Lymphozyten-Anteil hält sich mit knapp 60% in Grenzen. Meine körperliche Verfassung hat sich deutlich verbessert, ich nehme sogar zu (...wie gut, dass es Dicke Bohnen gibt... ;-)! Die Auswirkungen der Kryoglobuline sind rückläufig: Ich kann wieder kalte Ohren bekommen, ohne dass sie gleich blau werden, und Hände und Füße sind warm und rosig auch bei niedrigen Temperaturen.

Ein altes Degenhardt-Lied geht mir nicht aus dem Sinn: "Feierabend". Es ist diese Zeile, die meine Situation so treffend beschreibt:

"Langsam weicht der Krampf im Bauch,
löst sich die Hand vom Stahl - 
bis zum nächsten Mal."

Mit "Stahl" ist hier eine Waffe gemeint; sie wird nicht aus der Hand gelegt, da bleibt Bereitschaft - "bis zum nächsten Mal": Früher oder später werde auch ich mich wieder zur Wehr setzen müssen. Aber ich spüre, dass ich mich etwas entspanne, zumindest für den Augenblick. Ich bin angenehm überrascht: Auch wenn ich zwischendurch ein wenig die Orientierung bezüglich der Therapieausrichtung verloren habe - die Entwicklung ist schließlich positiver als gedacht.

Ich habe viele neue Erfahrungen machen dürfen in der letzten Zeit, viele neue Eindrücke gesammelt. Dankbar bin ich vor allem für Gespräche mit anderen Patienten, Weggefährten: Solche Gespräche helfen, die eigene Situation zu relativieren. Der Austausch mit anderen Menschen, die ja auch alle ihr Päckchen zu tragen haben, weitet die Perspektive. Ohne diesen Austausch wird der Blick röhrenförmig... Auch unter diesem Aspekt ist ein Krankenhaus ein Ort der Heilung: Es ermöglicht erst diese Kommunikation.

Dankbar bin ich auch für eine große Enttäuschung, die ich in dieser Woche erfahren habe: Ich habe mit all meiner Überzeugungskraft versucht, einen aus meiner Sicht wichtigen Impuls in die Pipe Band Szene einzubringen. Bildlich gesprochen: Ich habe mein Herz in die Luft geworfen in der Hoffnung, jemand würde es auffangen...

Enttäuschungen sind wichtig im Leben - sie helfen uns, klarer zu sehen. Die Ent-täuschung zerreißt den Nebel der Illusion: Sie ersetzt das Wunschbild der Täuschung durch ein klares Bild der Realität.  Ein schmerzhafter Prozess, sicherlich, aber hilfreich!  Enttäuschungen zwingen uns zu wachsen, ein guter Grund, sie auch positiv zu sehen. - Was werde ich nun tun? Das, was ich für richtig erkannt habe, selbstverständlich! Wissen, dass eine Verbesserung nötig und möglich ist und nicht handeln - das ist Sünde in meinen Augen! Ob ich es schaffe? Ich will zumindest versuchen, den ersten und dann vielleicht den zweiten Schritt zu machen, und selbst wenn ich nur einen Schritt schaffe, so ist dieser eine Schritt vielleicht hilfreich. Gut zu wissen, nicht völlig allein auf verlorenem Posten zu stehen!

Es scheint, dass da nicht viel Platz bleibt für den Rückzug in den Ohrensessel, nicht wahr? Nein, ich beabsichtige nicht, kürzer zu treten, eine ruhigere Kugel zu schieben. Und ich beabsichtige nicht, den Stahl aus der Hand zu legen: Ich mag den Krebs nicht besiegen können, aber ich werde nicht kampflos aufgeben! Seien wir ehrlich: Es gibt tausend gute Gründe, diesen Kampf mit aller Kraft, allem Mut, allem Ernst und aller Tapferkeit zu führen - das Leben ist es wert!

Fazit: Wachsame Entspannung, eine kurze Verschnaufpause - und weiter!

03.12.04

Ich fühle mich sehr gut und bin entsprechend bester Laune. Vorgestern wurde die Antikörper-Therapie mit 30 mg  MabThera®  begonnen (... das "mab" in Rituximab® und MabThera® steht für "monoclonal antibodies"). Gestern wurde die Dosis auf 90 mg und heute auf 440 mg gesteigert, wobei die Infusion jeweils - piano, piano - über 10 Stunden lief. Wesentliche Probleme gab es diesmal nicht, lediglich gegen Mittag traten heute diskrete Schmerzen im Schultergürtel und ein leichtes Beklemmungsgefühl auf. Ich habe die Infusion nicht ausgestellt sondern "aggressiv zugewartet"; die Beschwerden legten sich und nun ist die Infusion gleich durch. Danach bekomme ich noch etwas Blut - der Hb ist mit 8,3 doch etwas im Keller - und morgen geht's nach Hause, passend zur Nikolausfeier der Bogenschützen am Samstag und zur BassMafia IV, die am Sonntag in Borculo ausklingen soll. Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben, aber das wird für mich schon ein wenig "Phoenix aus der Asche" sein... ;-)

30.11.04

Noch ein Traum (Nacht vom 28. zum 29.11.04):

In einem Hallenbad nehme ich an einem Wettkampf teil. Große Wasserrutschen stehen statt der üblichen Startblöcke am Rand des Wasserbeckens, und es geht darum, wer als erster im Wasser ist. Es geht los, aber ich habe meine Brille verloren und sehe nichts. Während die anderen auf die Wasserrutschen klettern und ins Wasser rutschen suche ich meine Brille und bleibe zurück.

Eigentlich hatte ich mir für den Montag eine Menge vorgenommen, aber dieser Traum hängt mir wie ein Mühlstein am Hals und lähmt mich. Einen aktuellen Bezug kann ich nicht erkennen: Will mir mein Unterbewusstsein wirklich mitteilen, dass ich es nicht schaffe?

Heute Morgen ein Blick in den Spiegel: Hängende Schultern, ein müdes Gesicht, traurige Augen... Ich werde sehr böse und verpasse mir erst einmal eine ordentliche Standpauke die darin gipfelt, dass es schließlich der Wille ist, der das ausschlaggebende Moment darstellt. Die "Packung" wirkt... ;-)

Essen hat noch kein Bett frei. Ich mache eine ausgiebige Runde mit den Hunden und wieder geht mir der Traum durch den Sinn. Auf einmal verstehe ich: Es geht nicht um das Verlieren des Wettbewerbs, es geht um Verlieren der Brille, um das nicht Sehen können! Und damit bin ich bei genau dem unguten Gefühl, dass ich seit einigen Tagen habe...

Der weitere Weg war mir unklar, als ich Essen zuletzt verließ: Weitermachen mit einer Chemotherapie, vielleicht doch versuchen,  Stammzellen zu gewinnen und die ursprünglich geplante Hochdosistherapie mit Stammzellrückgabe anstreben - oder einfach Tumorreduktion mit einer Chemo oder eben mit Antikörpern. Als Bogenschütze würde ich in solch unsicherer Situation niemals einen Pfeil auf die Sehne legen: Der Stand ist nicht sicher, auch nicht das Ziel und die Risiken können nicht abgeschätzt werden. Der derzeitige Stand in Essen ist vergleichbar... "Plan A" leuchtete mir ein: Ein mehrstufiges Vorgehen mit kalkulierbaren Risiken und überschaubarer Dauer. "Plan B" ist nebulös, unscharf. Ich habe auf das sehr spezifische Rituximab äußerst sensibel reagiert, trotzdem soll nun eine relativ unspezifische Chemotherapie begonnen werden? Wenn feinstes Werkzeug (Antikörper) zur Reparatur einer Uhr zur Verfügung steht, warum auf einen Vorschlaghammer (Chemotherapie) zurückgreifen?

Plötzlich liegt er wieder vor mir, der Weg, zumindest sind mir die nächsten Schritte klar: Ich brauche "mehr Input"! Nur wenn ich Weg und Ziel kenne, kann ich meinen Teil zum Gelingen beitragen. Ich muss das Gespräch mit meinen Ärzten suchen, muss "die Brille" wieder finden und damit klare Sicht.

In Essen kommt der Oberarzt auf mich zu: Er hat interessanterweise den gleichen Gedankengang verfolgt wie ich. Auch er sympathisiert mit der Rituximab-Strategie und will sie im Team diskutieren. Ein derartiges Vorgehen sei zwar absolut unkonventionell, andererseits sei aber durch nichts belegt, dass die Hochdosistherapie lebensverlängernd wirke. Das CD 20-Antigen auf den B-Lymphozyten sei stabil, der monoklonale Antikörper könne daher dauerhaft eingesetzt werden.

Langer Rede kurzer Sinn: Es wird schließlich beschlossen, einen erneuten Versuch mit Rituximab zu unternehmen - einschleichend, d.h. mit langsamer Dosissteigerung und vorsichtig, d.h. langsam.

26.11.04

Ein Traum (Nacht vom 24. zum 25.11.04):

Am Strand, unter einer alten, windschiefen Bretterbude, grabe ich nach Schlangen. Schließlich gelingt es mir, eine zu fangen, aber ich kann ihr Gift nicht melken: Sie ist trocken. Ein Junge fängt mühelos mehrere Schlangen und gibt mir eine ab.

Aktuelle Anteile? In der Vorlesung vor zwei Tagen wurde mit mir ein zweiter Patient vorgestellt: 20 Jahre jünger als ich, Chemotherapie nach hochmalignem Non Hodgkin Lymphom mit Vollremission (d.h. Krebszellen können nicht mehr nachgewiesen werden, d.h. Heilung, wenn dieser Zustand über einen gewissen Zeitraum gehalten werden kann). Er könnte für den Jungen stehen, der mühelos das Gift gewinnen kann.

Traumanteile? Strand steht für Wasser, Wasser für Dinge, die mich im Kern berühren. Die windschiefe Bretterbude lässt mich an die einige Tage zurückliegende Beobachtung meines körperlichen Zerfalls denken. Schlangen, Gift: "All Ding ist Gift," sagt Paracelsus. "Es ist die Dosis, die macht, das ein Ding kein Gift ist." Es liegt nahe, dass mit Gift hier die Chemotherapie gemeint ist. Wenn meine Schlange kein Gift hat, "trocken" ist, deutet das auf meine Probleme hin, wie geplant / erwünscht / erhofft auf die Chemotherapie anzusprechen, vor allem wohl für mein Unvermögen, Stammzellen zu produzieren. Dass der Junge mir eine seiner Schlangen überlässt steht wohl für die Hoffnung, dass die Dinge sich doch noch zum Guten wenden mögen.

Gestern habe ich im Rahmen der ambulanten Rituximab-Therapie wieder herumgekaspert und bin dementsprechend wieder auf der Station gelandet. Der Unterschied zu den bisherigen Therapieversuchen mit Rituximab: Ich habe wesentlich länger am Tropf gehangen und deutlich mehr Substanz bekommen. Der Kreislauf war diesmal stabil, nur Schmerzen und Übelkeit führten zum Therapieabbruch. Die Schmerzen waren diesmal sehr fokussiert: Lendenwirbelsäule und Oberbauch. Ich weiß, dass im Bereich der nicht mehr vorhandenen Milz ein großes Lymphom liegt und dass die Leber ebenfalls infiltriert ist. Wenn ich nun in diesen Bereichen Schmerzen entwickle steht das wohl dafür, dass in diesen Bereichen viele Tumorzellen untergehen. Ich beobachte, dass die übrigen Lymphknoten, insbesondere im Hals- und Leistenbereich deutlich rückläufig sind. Hier haben offensichtlich Chemotherapie und Rituximab die Tumormasse deutlich reduziert. Unter dem Strich also bisher ein durchaus positives Resultat  Wir werden sehen, wie die weitere Therapie verläuft: Planmäßige Aufnahme zur nächsten Chemo ist nächsten Dienstag.

24.11.04

Es ist schön, wieder Zuhause zu sein. Raureif liegt auf dem Land. Die Sonne lacht, und die Bäume wiegen sich leicht im Wind. Die Hunde dösen, im Ofen brennt ein gemütliches Feuer. Anke hat mir heute den Abschiedskuss nur auf die Wange gehaucht: Sie schnieft ein wenig. Am Gartentor ein neues Schild: "Wir müssen leider draußen bleiben!" in Kombination mit der Zeichnung eines erkälteten Mannes mit Triefnase.

Gestern morgen noch war ich Demonstrationsobjekt für ein niedrig malignes Non Hodgkin Lymphom im Hörsaal der Medizinischen Uni-Klinik Essen. Kaum wieder auf der Station wurde ich aus der stationären Behandlung entlassen: Es ist leider nicht gelungen, Stammzellen zu gewinnen, "Plan A" - um den Oberarzt zu zitieren - ist damit vorerst, vielleicht auch endgültig gescheitert. Also versuchen wir nun Plan B: Ab morgen soll ein erneuter Therapieversuch mit Rituximab, dem Antikörper, auf den ich so heftig reagiert habe, gestartet werden mit dem Ziel, die Tumormasse weiter zu reduzieren. 

Als Grund für mein Unvermögen, Stammzellen frei zu setzen, seien laut Oberarzt grundsätzlich zwei Faktoren denkbar: Die Schädigung des Knochenmarks durch vorherige Chemotherapien oder die Ausmauerung des Knochenmarks mit Tumorzellen. Das eine Horn dieses Dilemmas entzieht sich einer Therapie, das andere Horn soll nun also mit Antikörpern gepackt werden. Zur Sicherheit werde ich mein Köfferchen dabei haben, nur für den Fall, dass ich wieder abbaue...

Prognostisch ist dieser Verlauf natürlich eher ungünstig, aber das kann ich nicht recht beurteilen. Ehrlich gesagt: Ich will es auch gar nicht. Ich habe mir angewöhnt, den heutigen Tag zu leben und zwar so, dass er ein guter Tag zum Sterben ist. Ich werde, da ich so und damit so intensiv lebe, nie genug Zeit haben. Es macht also keinen wirklichen Unterschied, früher oder später zu gehen. Lebend werde ich Fuß vor Fuß setzen, sterbend einen Berg unerledigter Arbeit hinterlassen. Es ist nicht meine Sorge, ob und von wem diese Arbeit erledigt wird.

Für den Augenblick bleibt, dass Essen mir Zeit verschafft hat  - vorher sah es sehr böse aus. In Essen habe ich also gewonnen, nicht verloren.

Als ich gestern Abend noch ein wenig für mich war - Anke und die Jungs hatten sich schon zur Ruhe gelegt - formte sich ein Gedanke, der mir zwar schon wiederholt durch den Kopf gegangen ist, nicht aber in dieser diamantenen Klarheit: Hier will ich sterben, in diesem Frieden, in dieser Umgebung, mit Anke an der Seite, guten Freunden und selbstredend mit den Jungs. Ich will in meinem letzten Stündchen nicht auf Mauern sehen müssen, nicht in fremdem Bett liegen und nicht getrennt sein von fast allem, was ich liebe. Dies wird also ab sofort Teil jeder Vereinbarung mit jedem Arzt sein: Die rechtzeitige Entlassung.

Die Homepage wird zerfallen, aber nicht wahllos, sondern wohl durchdacht. Für alle Bereiche habe ich eine Doppellösung gefunden: Jeweils eine Institution und eine verlässliche Einzelperson werden sie erhalten, vielleicht sogar fortschreiben. Die BAG und Maik Reckziegel werden den "Schottischen Teil" weiterführen, "Pfeil und Bogen" werden von "Traditionell Bogenschiessen" und Martin Kellermair übernommen. Tagebuch und Texte aus dem persönlichen Teil werden von der Uni Münster und Ralf Klonowski weiterhin vorgehalten, auch die Dissertation dürfte inzwischen auf dem Uni Server liegen. Es wird also kaum etwas von der Arbeit der letzten Jahre verloren gehen. Ich denke, dass ich hier eine gute und tragfähige Lösung gefunden habe. Die Sicherung der Arbeit ist mir gleichzeitig auch wunderbare Motivation, nun nicht den Stift aus der Hand zu legen, sondern eben gerade jetzt so fleißig wie möglich zu schaffen. Warum? Ich will auch morgen noch sagen können: "Es tut mir leid, aber zum Sterben habe ich einfach noch keine Zeit!" ;-)

16.11.04

In alter Zeit benutzte man die Sterne zur Navigation: Der Polarstern und verschiedenste Sternbilder halfen dabei. 

Wie habe ich sie gehasst im Studium, die "karierten Maiglöckchen", also die extrem seltenen Erkrankungen. Nun bin ich selber so ein kariertes Maiglöckchen, und ich kann nicht behaupten, glücklich damit zu sein. Die erneute Diagnostik in Essen hat zu neuer Diagnose geführt: Splenisches Mantelzell-Lymphom. So weit, so gut - nur dass ich weltweit erst der 16. Patient mit dieser Diagnose bin, das will mir gar nicht gefallen. Da stehen also zur Navigation nur 15 Sterne zur Verfügung, und die bilden gerade mal ein Sternbild. Gut, dass diese ganzen Unterteilungen doch auch  künstlich sind, akademische Haarspaltereien. Andere Sternbilder aus dem Formenkreis der niedrig malignen Non Hodgkin Lymphome als übergeordnete Prinzipien können weiterhin für zusätzliche Orientierung sorgen.

Die mittlere Überlebenszeit beim Mantelzell-Lymphom beträgt zwei Jahre. Die Tatsache, dass ich seit den ersten Symptomen nun fast 15 Jahre lebe führte zu einer Äußerung des Chefarztes, in der neben einer gehörigen Portion Humor durchaus auch ein wenig  Anerkennung mitschwang: "Herr Sudhues, Sie halten sich nicht an die Regeln!"

Oft ist ja das Leben des Nonkonformisten nicht leicht, aber manchmal ist es doch auch sehr von Vorteil - wie man sieht ... ;-)

14.11.04

Gestern ist es mir schon durch den Kopf gegangen: Diese Ärmchen sollen einmal einen 60 Pfund-Bogen gezogen, Schultern und Hüften eingerenkt haben? Heute ein erneuter kritischer Blick in den Spiegel: Was hat dieses Jahr bloß mit meinem Körper angestellt! Beinchen wie Streichhölzer, der Körper ausgemergelt, die Augen tief in den Höhlen, die Wangen eingefallen... Ich war nie fett, eher asketisch als athletisch, aber dieses zerknüllte, zerbrechliche Etwas ist mir doch fremd. Eine Erinnerung steigt auf, ein Bild, das ich in Indien sah: Der fastende Buddha...

Möglich, dass ich deswegen so mimosenhaft auf diese oder jene Therapie reagiere: Da ist kein Puffer, kein Fett mehr. Denke ich an die Zukunft, so denke ich im Augenblick auch an Essen, Gewichtszunahme und Muskelaufbau: Ich hoffe, dass ich im Frühjahr wieder an die Gartenarbeit darf...

13.11.04

Hinter mir liegt eine Woche, die man getrost als "Packung" bezeichnen kann: Am Sonntag geht es in aller Frühe zur Klinik -  das Blutbild muss kontrolliert werden. Die Chemo hat die Leukos mehr als halbiert: Von 135.000 auf 50.000  (Norm: 6.000 - 9.000). Am Montag dann Vorstellung in der Tagesklinik: Monoklonale Antikörper (Rituximab), also speziell gegen meine Krebszellen gerichtete Antikörper sollen infundiert werden. Es bleibt beim Versuch: Nach kurzer Zeit merke ich, dass mein Kreislauf in die Knie geht. Die Infusion kann ich gerade noch abstellen, ich verliere auch nicht das Bewusstsein, bin aber doch leicht schockig. Die Schwestern nehmen mich für die nächsten Stunden in ihre Obhut, Stunden, in denen ich teils bibberte vor Kälte, dann wieder schwitzte wie ein Schwein. Langer Rede kurzer Sinn: Gegen Mittag wird die stationäre Aufnahme beschlossen. Abends dann ein zweiter Versuch mit Rituximab, wieder mit starker Reaktion meinerseits: Heftige Bauch- und Knochenschmerzen, zudem starke Kurzatmigkeit. Die Therapie wird sofort abgebrochen, Schmerzen wie auch Kurzatmigkeit legen sich kurze Zeit später. Große Überraschung dann am nächsten Morgen: Die Leukozyten sind von 50.000 auf 700 (!) gestürzt. Ich muss schon eingestehen, dass ich schwer beeindruckt bin: Eine verschwindend geringe Menge Antikörper hat einen derartig durchschlagenden Effekt erzielt. Die Tatsache, dass es mir unter dieser Therapie so übel ging, lässt sich damit erklären, dass binnen kurzer Zeit sehr viele Zellen zugrunde gingen: Zelltrümmer und -abbauprodukte stellen dann den Körper vor eine echte Aufgabe (...während der Chef-Visite fällt das Wort vom "Zytokin-Sturm"). - Mein "gutes Ansprechen" auf die Antikörper stimmte mich zunächst hoffnungsfroh: Wo viel Nebenwirkung, da viel Wirkung, so meine vielleicht etwas naive Überlegung. 

Der Rest der Woche? Viel im Bett gelegen, schlapp, müde; aufgefiebert, abgefiebert, aber keine dramatischen Sensationen mehr: Ein Leben auf Sparflamme... Blut, auch Blutplättchen müssen wiederholt angehängt werden: Auch diese Blutreihen haben offensichtlich etwas abbekommen. Von der Erkältung ist ein quälender Reizhusten geblieben; etwas Codein zur Nacht entspannt hier die Lage. Ich hoffe, Volker hat das Schnupfen-Schild fertig: Ich bin fest entschlossen, niemanden mit Erkältung mehr auf das Grundstück zu lassen. Bei allem Altruismus: Es gibt Formen des gesunden Egoismus, die man nicht opfern sollte!

Heute, am Samstag, geht es erstmals etwas besser: Da ist zumindest wieder eine Idee von Mumm. Ein kurzes Gespräch mit dem Oberarzt relativiert meine wohl übersteigerten Hoffnungen bezüglich des Rituximab: Die Wirkung im Blut sei zwar immer wieder beeindruckend, im Knochenmark aber sei die Wirkung weniger durchschlagend. Das zeige sich ja bei mir auch daran, dass nun frische Lymphozyten wieder ungehemmt nachströmten: Immerhin seien 80% meiner inzwischen wieder 9.000 Leukos Lymphozyten!

 In die gleiche Richtung weist auch das Gespräch mit dem Transfusionsmediziner, der mir die Stammzellgewinnung erklärt. Auf entsprechende Frage meint er, eine eventuelle  Kontamination der von mir gewonnenen Stammzellen mit Tumorzellen sei nicht das ausschlaggebende Kriterium für den Erfolg der Stammzelltherapie: Die Größe der noch im Körper verbliebenen Tumormasse sei entscheidend. Das nenne ich ein starkes Argument für die Hochdosistherapie! Die Vorbereitung des Bodens ist also das A & O für das Angehen der Saat: Phoenix kann nur aus der Asche aufsteigen...

Was soll ich sagen am Ende dieser Woche? Ich fühle mich gut aufgehoben hier in Essen. Informationen werden bereitwillig mit mir geteilt, und die Kollegen lassen durchscheinen, dass ihnen durchaus bewusst ist, dass Wasser bei ca. 100° C kocht. Das sind keine Zauberlehrlinge - sie wissen sehr gut, was sie tun! Es verursacht bei mir ein ungemein beruhigendes Gefühl, wenn hoch qualifizierte Fachleute komplexe Sachverhalte verständlich erklären können: Nur wer wirklich verstanden hat, was er tut, ist dazu in der Lage. Auch Schwestern und Pfleger sind ganz nach meinem Geschmack: Das Team strahlt Professionalität aus - und auch Humor und Mitgefühl. Es geht leise zu auf der Station, aber diese leise Art hat mit Höflichkeit zu tun, nicht mit Niedergeschlagenheit.

Ich bin nicht böse darum, dass sich die Dinge im Augenblick etwas ziehen: Ich brauche immer etwas Zeit, um anzukommen, warm zu werden. Die Zeit, die ich jetzt "verliere", wird später für mich Gewinn sein...

06.11.04

Im Gegensatz zu den bisherigen ambulanten Chemotherapien, die ich relativ gut weggesteckt habe, waren die beiden Therapien am Mittwoch und Donnerstag durchaus anstrengend. Das Ausschwemmen der Substanzen reduzierte selbstredend den Schlaf, aber außer ein wenig Übelkeit und Erbrechen hielt es sich in Grenzen.

Zur Promotionsfeier am Freitag habe ich mit Ach und Krach Urlaub von der Klinik bekommen: Aufbruch am frühen Nachmittag in Essen, 15 Minuten Zwischenstopp Zuhause zum Umziehen (Day Dress ;-) und weiter zum Klinikum Münster.

Die Feier wahr in mehrfacher Hinsicht sehr lehrreich für mich: Viele "summa cum laude" Promotionen, das relativiert mein "magna cum laude" und sorgt so wieder für Bodenhaftung; brillante Kurzvorträge der beiden Gewinner der "Besten Promotion", das sorgt für Zuversicht für die Zukunft von Forschung und Lehre. Die abschließende Urkundenvergabe geriet etwas hektisch: 120 Doktoranden mussten die Urkunden überreicht werden. Wiederholt verhaspelten sich die beiden Professoren, die dem Dekan assistierten, bei der Verlesung der Promotionsthemen: Das sorgte für Nachsicht mir selbst gegenüber - ich verstand teilweise nur "Bahnhof"...

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon etwas angeschlagen: Mit einem HB von 8,7 ist die Luft im Westfälischen grundsätzlich schon ziemlich dünn. Auf dem letzten (höchsten!) Rang eines überfüllten Hörsaales ist nach anderthalb Stunden Veranstaltungsdauer die Wahrscheinlichkeit, ein Sauerstoffmolekül zu erwischen ungefähr so groß wie die, auf einer Kuhweide in Suderwick ein vierblättriges Kleeblatt zu finden. Mein Name wird aufgerufen - immerhin verstehe ich hier das Thema der Arbeit -  und ich versuche, diese lange Treppe 'runter zu kommen. Sorge macht mir dabei das Ende der Treppe: Eine Riesenstufe führt hier auf die Bühne - 'runter ist leicht, aber rauf!!! ...und dann stehe ich atemlos vor dem Dekan und krieg mit Mühe ein "Danke!" heraus, als er mir die Urkunde in die Hand drückt. Und dann stehe ich eingezwängt inmitten dieser blutjungen Kollegen, bekomme kaum Luft, diesmal wegen eines atemberaubenden Parfums, und komme mir vor wie ein alter Sack, der ich in diesem Umfeld ja auch bin, und denke eigentlich nichts Weltbewegendes - nur, dass es ein langer Weg war... ;-)

Anke hatte mir schon davon berichtet, aber ich wollte es mit eigenen Augen sehen: Offensichtlich hatte jemand eine Panne mit seinem Gefrierschrank - im Biotop liegen  verdorbenes Fleisch, Fisch, Gemüse, Fertiggerichte etc. auf einem Haufen. Manchmal wünscht man sich ja doch, Dummheit möge weh tun! Wer seinen stinkenden Hausmüll ausgerechnet in einem Biotop "entsorgt", der ist entweder saudumm oder bösartig. Dass seine Kinder und Enkel wegen eben dieses Biotops vielleicht das Glück haben werden, lebendige Frösche und Molche zu beobachten, geht über seinen Horizont... - Zwangsläufig fragt man sich, welch wunderbare Möglichkeiten die Menschen hätten, wenn sie das Gehirn, das ihnen von der Natur gegeben wurde, endlich einmal benutzen würden.

29.10.04

Seit einigen Tagen bin ich hier in der Uni-Klinik Essen zur Stammzell-Therapie, und es ist wohl auch allerhöchste Eisenbahn: Ich bin deutlich reduziert, d.h. kraftlos, kurzatmig, schlapp. Wenn ich daran denke, dass ich vor knapp drei Wochen noch Bäume gefällt habe, ist mein derzeitiger Zustand wirklich erschreckend. Schlimm sind vor allem die Knochenschmerzen: Ich habe das Gefühl, zu zerbrechen...

Nicht unwesentlichen Anteil an der momentanen Misere hat eine üble Erkältung, die ich mir am vergangenen Wochenende im Rahmen der BassMafia zugezogen habe. Schon während des Workshops merkte ich, dass mir die Energie wie aus einem Leck wegtropfte. Eigentlich wissen alle Freunde und Bekannte, dass eine Erkältung fatale Folgen für mich haben kann; allen anderen werde ich es wohl schriftlich geben müssen - in Form eines kleinen Schildes am Tor. - Die Erkältung ist inzwischen rückläufig: Warten wir ab, ob sich der Allgemeinzustand wieder etwas erholt.

Einiges an vorbereitender Diagnostik ist gelaufen, am wichtigsten hiervon war wohl die Knochenmarkspunktion. Es war beileibe nicht meine erste "Knochenmarkstanze", aber die angenehmste: Ein wenig Dormicum schickte mich in Morpheus Arme, so dass ich diesen kurzen, aber fiesen Schmerz verschlief, der beim Ansaugen des Knochenmarks entsteht. Da ich bisher immer selbst zu diesen Untersuchungen gefahren bin, kamen solche Marscherleichterungen selbstverständlich nicht infrage: Ein Westfale braucht eben keine Schmerzmittel, lediglich ein Beißholz! Und selbstverständlich ist die Erde flach... ;-)

Der vor mir liegende Kurs ist auf jeden Fall klar abgesteckt:

Schritt Chemotherapien Stammzellgewinnung und -rückgabe
1. Chemotherapie I  
2.   Stammzellgewinnung A
3.

Chemotherapie II

 
4.  

Stammzellgewinnung B

5. Hochdosis-Chemotherapie I  
6.   Stammzellrückgabe A
7. Hochdosis-Chemotherapie II  
8.   Stammzellrückgabe B

Der ganze Kurs soll 80 - 90 Tage dauern, unterbrochen vielleicht von einzelnen Urlaubstagen, wenn die Verfassung es zulässt. Die einzelnen Chemotherapien werden mit jeweils unterschiedlichen Wirksubstanzen ausgeführt, damit die Leukos (bzw. in meinem Fall natürlich die Lymphos... ;-) keine Chance bekommen, sich auf den nächsten "schemischen Schlag"* einzustellen. Die Nebenwirkungen werden dementsprechend gleichfalls wechseln: Schleimhautprobleme, Übelkeit etc. wurden mir garantiert. 

Die beiden Hochdosis-Chemotherapien werden mein Knochenmark und damit meine Fähigkeit zur Blutbildung zerstören, ein Zustand, der mit dem Leben selbstverständlich nicht zu vereinbaren ist. In dieser Situation kommen die zuvor gewonnenen Stammzellen zum Tragen: Sie sollen sich im Knochenmark wieder ansiedeln und ordentliches Blut produzieren. Erkennbar wird der Kurs zweimal durchlaufen: Sinn der Übung ist es, das Risiko einer Verschleppung von Krebszellen bei der Stammzellrückgabe so gering wie möglich zu halten.

Vor wenigen Tagen noch sah ich mich am Ende des Weges, nun habe ich einen Weg vor mir, der zunächst schmerzhaft sein wird, dann aber hoffentlich doch wieder Lebensqualität verspricht. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand - also drauf und dran und wacker ausgeteilt! Und klar: Wer austeilt, muss auch einstecken können...

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* Beim "schemischen Schlag" handelt es sich übrigens um ein schelmisches Zitat: Es gab da mal einen Underground-Comic, in dem "Oberst Schäbig und seine schäbige Schabenschar" mittels eines "schemischen Schlages" terminiert werden sollte...(The Fabulous Fury Freak Brothers... ;-)

19.10.04

Mit Volker heute über meine berufliche Zukunft gesprochen. "Ja meinst du denn im Ernst, die letzten 13 Jahre wären spurlos an dir vorbeigegangen? Meinst du, du könntest da wieder anfangen, wo du vor 13 Jahren aufgehört hast? Warte erst einmal ab, wie du dich nach der Therapie fühlst! Warte ab, wie gut du dich erholst und sieh dann zu, was möglich ist!"

Auch dem Narren gehört von Zeit zu Zeit der Spiegel vorgehalten... Natürlich hat Volker recht: Das Heute zählt. Also die gute alte Ochsentour: Ein Schritt nach dem anderen, und brav den Pflug gezogen (...ein Bild übrigens, das auch Laotse benutzt... ;-)

Und doch lasse ich mir meine Träume nicht nehmen: Was wären wir ohne unsere Träume...

18.10.04

Was einem nicht so alles durch den Kopf geht... Da hat man sich eingerichtet in seinem Rentnerdasein und die Tatsache akzeptiert, sozial abgesichert zu sterben. Und dann klingelt das Telefon und der Doktor bietet dir eine neue Chance, ein neues Leben an.

Ich muss zugeben, dass ich verwirrt bin. Nein, verwirrt ist nicht der richtige Ausdruck: Eher überrascht, überwältigt...

Die beiden Blutkonserven, die ich vor einigen Tagen bekommen habe, haben mir körperlich enormen Auftrieb gegeben. Die Arbeit im Biotop ist sehr anstrengend, aber man kann auch die Gedanken treiben lassen. Was, wenn ich diese Chemotherapien gar nicht mehr brauchte? Was, wenn ich wieder selbst mein Blut produzieren kann? Körperlich beneide ich mich heute um den Hubert, der damals heulend wie ein Schlosshund seine chirurgische Stelle, den Lebenstraum, kündigte, weil einfach die Kraft fehlte. Aus heutiger Sicht war dieser Hubert ein Tarzan!

Gut, der Milztumor wurde ja ziemlich flott entfernt nach der Diagnose: Der kann mich nicht mehr ärgern. Aber was, wenn ich nach der Stammzelltherapie wieder normales Knochenmark habe: Nicht 100.000 Leukos sind dann angesagt sondern z.B. 6.000. Mit einem HB von 16 mache ich den Kettensprenger auf dem Jahrmarkt! Und keine Angst mehr, dass die Thrombos noch weiter in den Keller gehen könnten und ich am Ende aus allen Knopflöchern blute. Mit Glück verschwänden diese blöden Kryoglobuline: Ich bräuchte nicht mehr im August mit der Pudelmütze 'rumlaufen und im Winter Hände und Füße in heißem Wasser auftauen. Mücken und Stechfliegen ließen mich in Ruhe - statt mich bei lebendigen Leib aufzufressen.

Ich hätte wieder Appetit, und sicherlich würde ich es im Nu schaffen, mein altes Kampfgewicht von 72 Kilo zu erreichen. Wäre das ein Leben! Stundenlang Holzhacken ohne Erschöpfung! Überhaupt: Nicht mehr diese elende Erschöpfung, dieses Wollen, aber nicht können... Ich würde mir die Bass umhängen und geduldig den Diskussionen der Piper über die dritte Note rechts oben lauschen... Ich würde den Bogen, den ich vor Jahren in Lockenhaus begann, endlich schießen: Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn auf ein Gewicht zu schaben, dass ich ziehen kann.

Ich könnte wieder arbeiten! Den alten Traum von der Chirurgie fertig träumen? Habe ich überhaupt noch eine Chance in der Medizin? Ich bin jetzt 13 Jahre aus dem Beruf: Da ist viel geschehen in dieser Zeit, und ich habe es nicht mitbekommen! Ich schreibe gern: Wissenschaftsjournalist? Oder lieber doch den alten Kindertraum erfüllen und mit Holz arbeiten... Drechseln ist herrlich, aber welcher Meister nimmt schon einen 47-jährigen akademischen Klugscheißer zum Lehrling?

Ich gebe zu: Da sind viele Fragen, die ich derzeit nicht beantworten kann. Interessant aber ist, dass sich solche Fragen überhaupt stellen! Es kribbelt: Aufbruchstimmung! Es ist dieses Gefühl, wenn der Pfeil auf der Sehne liegt und der Geist schon im Ziel ist: Spannung!

Grundsätzlich wird sich natürlich gar nichts ändern: 

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
die sich über die Dinge zieh'n;
ich werde den Letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
                                               R.M. Rilke

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist eine wertvolle Schule: Man lebt intensiver, wenn man den Tod akzeptiert hat. Wer Alter, Krankheit und Tod verdrängt läuft Gefahr, nur an der Oberfläche des Lebens zu kratzen. Das Leben wird so zwangsläufig oberflächlich - und schließlich schal. Ich habe eine gute Medizin gegen diese Oberflächlichkeit:

"Ja, ich werde sterben." - UND - "Ja, ich will leben!"

Anke war heute auf dem Kirmes-Turnier der Bocholter Bogenschützen. Ich habe nur den Chauffeur gespielt, weil ich noch ins Biotop musste. Einer der Bogenschützen, ein Archäologe aus Bochum, bat mich um die Erlaubnis, meine Doktorarbeit im Institut auslegen zu dürfen, "damit die Studenten mal nachlesen können, worum es eigentlich geht". So, genau so war es gemeint: Fächer übergreifend! Betrachte ich die Arbeit als Pfeil - dann scheint er sein Ziel zu treffen.

15.10.04

Vor zwei Tagen endlich der Anruf aus Essen: Ich werde kurzfristig zur Stammzelltherapie aufgenommen. Seitdem versuche ich, mich schlau zu machen... Ein Zuckerschlecken wird es wohl nicht, aber ich werde es schaffen: Es gibt tausend gute Gründe, am Leben zu bleiben. 

Heilung wurde mir nicht in Aussicht gestellt, aber Zeit. ZEIT! Die letzten Wochen lösten eher Endezeitstimmung aus... - Im Herbst wachsen die Pilze: Hier steht ein Glückspilz!

Gelobt und gepriesen seien die Blutspender,
ihre Kinder und Kindeskinder bis ins siebte Glied! 
Ihr Leben sei locker und flockig, 
und ihr Tod vergleichbar...

Heute habe ich wieder zwei Blutkonserven bekommen, und es ist erstaunlich, über welche Energie ich plötzlich wieder verfüge. Als ich vor zwei Jahren zu ersten Mal Blut bekam hatte ich ungefähr den gleichen Hämoglobinwert (HB) wie heute  Damals schnappte ich nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, jetzt hielt sich die Atemnot in Grenzen. Damals schaffte ich gerade noch drei Stufen, heute musste ich erst vor dem letzten Drittel meiner Teststrecke - der Treppe zur onkologischen Ambulanz im ersten Stock - eine Pause einlegen . Grund für diese Pause war aber nicht Atemnot, sondern "Bleifüße", keine Kraft mehr. Es kommen ja einige Probleme zusammen bei mir: Die einzelnen roten Blutkörperchen sind viel zu groß, es fällt ihnen daher schwer, in die feinsten Haargefäße zu gelangen. So gesehen  wird der HB also falsch hoch bestimmt, weil mir ja der Sauerstoff in der "letzten Wiese" nicht zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass durch die hohe Leukozytenzahl die Blutviskosität steigt: Das Blut wird zähflüssig. (Seitdem ich gestern mit einem Schicksalsgefährten sprach, der mit 400.000 Leukos in die Klinik kam, weiß ich, dass ich ein Weichei bin: Ich habe nur 100.000 Leukos - sein Blut muss wie Gelee gewesen sein... ;-)

Am Nachmittag dann Beginn der Baumfällung im Biotop. Ich hatte zwei Helfer und habe tatsächlich drei gute Stunden durchgehalten! Trotzdem haben wir zu wenig geschafft: Wir brauchen mehr Helfer!!! Das hätte ich auch gerne dem Jäger gesagt, der mich morgens ansprach: Wann wir den endlich fertig seien? Er wolle anfüttern, und dann müsse Ruhe sein. So unterschiedlich sieht Naturschutz aus: Ich versuche, ein Biotop zu sanieren und er will nur den Wildbestand "regulieren" ... Würde er mir helfen, könnte er schneller "regulieren" - aber so zieht es sich halt... ;-)

Es bleibt mir dieses Wochenende und vielleicht ein wenig Zeit unter der Woche. Zwei Teiche wollen noch angelegt werden, dass kostet mich am Samstag zwei Stunden im Biotop (Ortstermin mit dem Baggerführer) und in der Woche einen Tag:. Am nächsten Wochenende läuft die BassMafia hier auf, und unmittelbar danach geht's nach Essen. Wirklich Sorgen ums Biotop muss ich mir aber nicht machen. Funny, der das Konzept für die Sanierung erarbeitet hat, hat heute auf meinen Brandbrief reagiert: "Mit dem Biotop mach Dir keine Sorgen. Wir hahm beim Nabu eine schnelle Eingreiftruppe. Falls an diesem Wochenende was liegen bleibt, würde ich unsere Jungs für den nächsten bzw. übernächsten Samstag aktivieren." - Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen - und "With a little help of my friends..." ;-)

Seit heute an meinem Handgelenk eine TIMEX-Uhr: Unkaputtbar, laut Werbung. Sie wird mich während der Transplantation begleiten und mir den Rücken stärken... Sie wird ticken danach, und ich auch!

09.10.04

Heute bin ich am späten Vormittag mit Johann und Volker nach Dortmund gefahren zum 1.Bagpipe-Tag. Die Bass habe ich nicht eingepackt: Ich fühlte mich schlapp, hatte das Gefühl, eine Trommel nicht tragen zu können. Vor Ort viele bekannte Gesichter, viel Herzlichkeit...

Ein Mitglied der Crest of Gordon (Bremen) spricht mich an, ob ich vielleicht die Bass für die CoG spielen könne: Eine Bass sei da. Ich zögere ein wenig und sage dann, dass ich es wohl versuchen will - aber nicht versprechen kann, es auch zu schaffen. Dann stellt sich heraus, dass vier Auftritte geplant sind, wobei ich dreimal mitspielen soll. Ich sehe mir die Bass an: Markus hat sie recht ordentlich gestimmt. Etwas viel Dämpfung, dazu als Beater diese großen, weichen Puschel, vor denen ich immer warne. Der Carrier ist auf Markus eingestellt, die Bass hängt fürchterlich tief: Man hat gute Sicht so, aber die Hebelverhältnisse sind grauenhaft. Aufgewogen wird dies jedoch durch die Spielfreude und das hohe musikalische Niveau der Band.

Nach dem ersten Set irre ich durch die Musikschule: Ich habe mir die Raumnummer nicht gemerkt, in der die Crest of Gordon sich einspielen kann. Ich höre eine Bass und denke: "So muss eine Bass klingen! Das ist ein Sound!" Durch die offene Tür werfe ich einen Blick in den Raum und erkenne die Trommel: Ich habe sie im Rahmen einer BassMafia selbst gestimmt, sie gehört den Frankfurtern. Ich frage, ob ich sie vielleicht ausleihen könne, und ohne Zögern wird zugestimmt.

Diese Bass liegt mir besser und ich spiele die beiden verbleibenden Sets mit ihr. Die Wertungsbögen der Richter (Sheets) stimmen mich heiter: Da steht "steady", der Rhythmus ist also stabil. Die Bass folge und stütze die Melodie, von "schönen Figuren" (Flourishing) ist die Rede. Aber ein Wort sticht mir besonders in die Augen: Groove! Ja, das ist es: Feeling, Groove, in der Musik sein! Alles in Allem eine schöne Bestätigung, die runtergeht wie Öl...

Viel wichtiger aber ist für mich eine völlig andere Beobachtung: Ich komme an und fühle mich nicht besonders. Dann werde ich gefordert und blühe auf. Natürlich sind die letzten Laborbefunde miserabel, natürlich mache ich mir Sorgen, bin bedrückt. Sorgen machen das Leben nicht leichter: Wie banal! Fatal aber ist, wenn man sich davon unterkriegen lässt. Die Musik und die Lust an der Musik vertreibt solchen Hader: Hier und jetzt, nichts anderes zählt! Und in solchen Augenblicken kann man auf einmal sein ganzes Potential ausschöpfen: Keine Zweifel, kein Zaudern bremst. Ich sehe harten Zeiten entgegen: Die Erinnerung an diesen Tag wird mir helfen, damit besser umzugehen. Und eines noch, mir hinter die Ohren geschrieben: Ich sollte mich nicht unterschätzen! Ich bin belastbarer, als ich denke! ;-)

08.10.04

Vor mir steht ein Glas Whisky. Wie der Whisky duftet! Er ist alt und schmeckt nach Torf und Rauch und Highlands. Man kann ihn nicht trinken, nur einatmen. Nein, heute ist es nicht die Idee eines Hauches von Whisky: Heute ist es "a wee dram", und das ist richtig und angemessen so.

Ich sitze hier in heiterer Stimmung: Mein Herz lacht und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Irgendwie kam dieser Stein ins rollen... Ich bin Skeptiker, vor allem angesichts der um sich greifenden Pest der Esoterik. In Fletcher's-Corner, einem Forum für Bogenschützen, ging es dann ausgerechnet um Schamanismus... Nichts gegen Schamanen: In ihrer jeweiligen Kultur leisten sie sicherlich gute Arbeit. Aber die Riten und Geister ferner Völker in unsere Kultur importieren? Ich ging ab wie eine Rakete - um schließlich bei mir selbst zu landen:


MacBumm: Message to myself?

Ich habe mich gefragt, warum ich in diese Diskussion eingestiegen bin und warum meine Reaktionen so heftig waren. Ich habe mich gefragt, warum ich in dieser Öffentlichkeit über zerbrochene Pfeile berichtete und warum ich schrieb, dass ich einen Pfeil bisher leider nicht zerbrechen konnte.

Kann es sein, dass Spotted Eagles Pfeilritual mich an meines erinnerte? Vor allem: Kann es sein, dass mein Unterbewusstsein, meine Seele mir sagen wollte, dass hier ein Geschäft darauf wartet, endlich erledigt zu werden? Es ist nicht gut, mit solchem Groll zu leben: Bitterkeit mischt sich in die Süße des Lebens... Unerledigte Geschäfte erleichtern das Leben nicht - und sicherlich auch nicht das Sterben...

Kann es sein, dass Spotted Eagles Pfeilritual mich an meines erinnerte und an meine offene Rechnung? Kann es sein, dass ich mich so darauf versteift habe, sauer zu sein, dass sich meine Wut auf meinen damaligen Chefarzt in Schärfe gegenüber Spotted Eagle ummünzte?

Kann es sein, dass alles, was ich in diesem Zusammenhang schrieb, eigentlich nur die Bitte meines Unterbewusstseins an mich war, diesen alten Hader endlich loszulassen und meinen Frieden zu machen mit dem, der mich nach der Krebsdiagnose auch noch beruflich vernichtete?

Ja! Das alles kann sein! Ich habe heute bei der Arbeit im Biotop meine Gedanken streifen lassen. Später saß ich dann ruhig auf meinen vier Buchstaben und ein Gedanke nahm Form an: Der Gedanke an einen zerbrochenen Pfeil. Und ich muss zugeben, dass mich eine gewisse Vorfreude erfasste und auch ein zartes Gefühl von Erleichterung.

Ich werde nun einen Brief schreiben: Das Schreiben von Briefen ist immer eine gute Möglichkeit für mich, mir Klarheit über meine eigenen Gefühle zu verschaffen. Wie immer, wenn ich einen solchen Brief schreibe, gehe ich davon aus, ihn auch tatsächlich abzuschicken - was ich schließlich in den seltensten Fällen tue: Oft genug sind es halt Briefe an mich selbst... Aber ich denke, dass ich in diesem Fall den Brief tatsächlich zuschicken sollte: Er soll wissen, dass seine Entscheidung mich beinahe das Leben gekostet hätte! Und vielleicht schicke ich sogar erstmals den zerbrochenen Pfeil...

@ Spotted Eagle:
Ich habe meine Meinung über möglicherweise riskante Praktiken laut und deutlich kundgetan und stehe unverändert dazu. Da die Schärfe, in der ich diese Position vorgetragen habe, sich teilweise auch gegen dich persönlich richtete und ich nun annehmen muss, dass sie vielleicht lediglich Ausdruck meines Versuches war, mich vor meiner persönlichen Verantwortung für mich selbst zu drücken, möchte ich dich um Verzeihung bitten für diese Attacken: Ich war das Ziel!

@ all:
Wie es aussieht war diese Diskussion für mich eine Art Geburtshilfe. Dafür möchte ich mich bei allen bedanken, und zwar herzlichst! Dreizehn Jahre ein übles Gift in sich zu tragen - es ist genug!

Hoka hey! Hubert

Auf dass uns der Tod lebendig finde - und das Leben nicht tot!


Ich habe mir Zeit genommen für diesen Brief. Der erste Entwurf war gnadenlos: Ein Scharfrichter könnte keine schärfere Klinge führen. Ich habe drüber geschlafen, habe wieder und wieder den Brief überarbeitet. Ich habe mich gesehen, dem nach der Krebsdiagnose auch noch beruflich des Genick gebrochen wurde, und ich habe versucht, ihn zu sehen - und zusehends Mitleid empfunden.

Aber kann man solche schwerwiegenden Dinge am Schreibtisch klären? Ich konnte es einfach nicht auf den Punkt bringen. Also habe ich einen meiner besten Pfeile genommen, habe mich in den Wagen gesetzt und bin zum Wald gefahren. Es war eine Angelegenheit von Minuten, einige trockene Zweige abzubrechen, im Nu brannte ein kleines Indianerfeuer. Ich blickte ins Feuer, und Welle für Welle wuchs Klarheit. Anfangs waren es die formalen Dinge... Ich nahm den Brief und reduzierte ihn mit wenigen Strichen auf das Wesentliche: Von ursprünglich zwei Seiten blieben fünf Sätze, und diese Sätze waren frei von Hass.

Aber dann kamen Trauer, Schmerz und Wut: Wie konnten sie mir bloß meinen Lebensinhalt nehmen? Die Krebsdiagnose hat mich getroffen, aber damit konnte ich umgehen. Aber mir dann auch noch den Beruf zu nehmen, das war nicht fair! Gut, dass in dieser schwarzen Stunde drei Jahre später die dicke Suse, mein Neufundländer-Schutzengel, an meiner Seite war: Um ein Haar wäre ich in die Schlinge gesprungen...

Da ist und ist und ist diese Wunde, die nicht heilen will. Man darf wohl eine 13 Jahre alte Wunde getrost als "vergammelt" bezeichnen. Wie geht der Chirurg mit solcher Wunde um? Richtig: Radikale Ausschneidung!

Ich sehe in die Flammen und verstehe nach so vielen Jahren endlich, warum so entschieden wurde. Es war nicht der Chef, auch nicht der Verwaltungsdirektor: Beide haben nicht den Mumm. Die dritte Person im Direktorium war die treibende Kraft! Es hat Druck gegeben im Direktorium, und die beiden armen Würstchen haben diesem Druck nicht standhalten können... Wie auch, ohne Rückgrad? Chefarzt und Verwaltungsdirektor haben geschwächelt: Aber sind wir nicht alle schwach?

Bin ich nicht in Wahrheit in der besseren Position: Ich bin sensibel, dünnhäutig. Mein Fell ist nicht dick genug, um ohne Rückgrat aufrecht gehen zu können. Ich habe ein Rückgrat, und weil ich ein Rückgrat habe, kann mich niemand zu seinem Spielball machen. Ich bin frei, und darum bemitleide ich die Unfreien, in diesem Fall den Chef und den Verwaltungsdirektor.

Hinter mir liegt eine lange, schwere Krise, die mich fast das Leben gekostet hätte. Ich habe gelernt daraus, bin gewachsen. Krisen sind doch eigentlich positiv: Sie schubsen uns vorwärts.

Die letzte Welle kommt: Sie fragt, ob ich meinen Frieden machen kann ohne zu verzeihen. Nein, da bliebe ein Fleck auf der Seele, und dieser Fleck würde weiter Kraft kosten. Ja, sage ich, ja - ich will verzeihen. Ich nehme den Pfeil und schließe die Augen, erinnere mich an eine tibetische Meditation: Einatmend nehme ich alles schwarze Übel der Welt in mir auf, ausatmend verströme ich all meine guten Wünsche in Regenbogenfarben über die Welt. Ich praktiziere diese Meditation - und der Pfeil bricht.

Hat sich etwas verändert? Das Feuer brennt herunter, ich lösche, was noch glimmt. Auf dem Weg zum Auto komme ich an meinem Stein vorbei: "Tu was du kannst und geschehe damit, was will..." ist da eingehauen. Ich nicke kurz, weil dem nichts hinzuzufügen ist. Ich fahre heim und arbeite ein wenig in der Werkstatt, dann kommt ein befreundeter Piper und bringt mir eine Bass Drum zur Begutachtung. 

Hat sich etwas verändert? Nein: Ich tue, was ich kann... Aber ich habe Ballast abgeworfen und fühle mich erleichtert.

Nebenbei:
Auf dem Weg zum Wald war ich im Labor: Den Befund von Essen kenne ich noch nicht, aber die Leukos sind in den letzten 14 Tagen von gut 30.000 auf knapp 100.000 gestiegen, was meine Schmerzen im LWS-/Beckenbereich erklärt: Die dummen Dinger machen sich da breit! Der Hb ist jetzt unter 10, was das Rauschen in meinen Ohren erklärt. Die Thrombos sind um 60.000 - ab 30.000 wird es eng mit der Blutgerinnung... - Das alles sieht gar nicht gut aus... Die Leukos explodieren und verdrängen alle anderen Zellen. Ich lasse mich überraschen, ob das in den Griff zu bekommen ist... Ein "Farewell" an dieser Stelle wäre allerdings wohl verfrüht: Zum Sterben habe ich einfach noch keine Zeit... ;-)

Als ich das Studium abgeschlossen hatte kaufte ich mir von meinem ersten Gehalt eine Uhr: Diese Uhr blieb stehen, als mir gekündigt wurde: Sie war nicht mehr zu reparieren. Ich kaufte eine neue Uhr: Sie blieb vor einer Woche stehen. Ich denke, es ist an der Zeit, eine TIMEX zu kaufen: Die sollen ja unverwüstlich sein. (BTW: Im Internet gibt es einen "TIMEX", einen ganz zähen Burschen: Er krabbelt sich nach jeder Chemo wieder hoch... ;-)

Ach ja,  eine offene Schuld ist da noch: Ein Messer muss ich noch machen... Ansonsten bin ich frei.

07.10.04

Es ist 3:00 Uhr Nachts: Hinter mir liegt ein sehr dichter Tag. Wecken wie üblich um 7:00 Uhr. Nach dem Junggesellenfrühstück (Tasse Kaffee und Zigarette) sitze ich um 7:30 Uhr am Computer und bearbeite die Emails. Zwei Beiträge in Fletchers Corner, einem Forum für Bogenschützen, müssen dringend beantwortet werden: Also frisch ans Werk. Das Telefon klingelt: Ob es recht sei, heute im Biotop zu baggern. "Klar!", sage ich, "Wann?" "In einer halben Stunde?" Dann aber zügig! Schnell die Mail fertig schreiben und schicken: Der Faden darf nicht abreißen! Das Telefon klingelt: Eine Reporterin der Lokalzeitung möchte sich mit mir verabreden - wegen des Krebs-Artikels. Ich möchte mich nicht für eine oberflächliche Geschichte hingeben: Wir stimmen das gemeinsame Vorgehen ab... Der FC-Beitrag geht online: Erstmals ohne ordentliche Korrektur. Duschen fällt aus, ab zum Biotop.

Der Bagger ist gerade angekommen. Ich erkläre, was getan werden muss, und der Baggerfahrer legt los: Er macht seine Arbeit nicht nur professionell, er macht sie gut und mit Liebe. Tonnenweise wird übelriechender Schlamm aus zwei der drei Tümpel herausgeholt. Fünf Stunden später ist alles getan: Die Tümpel haben ein wunderbares Profil bekommen. In zwei Jahren wird wieder lebendig sein, was tot war: Als Keimzelle neuen Lebens bleibt der dritte, der ökologisch wertvollste  Tümpel unverändert: Hier hatten wir in den letzten Tagen lediglich den Rohkolben entfernt.

Wieder zuhause erst einmal eine Tablette genommen: Die Rückenschmerzen bringen mich um. Dann - endlich  - eine schöne, ruhige Runde mit den Hunden. Danach in die Stadt: Ich brauche Anglerstiefel für die Teiche und eine ordentliche Leiter für die Kopfweiden muss auch her. Ich muss zugeben, dass ich einen Bammel habe vor dieser Arbeit: Mit der Motorsäge über Kopf arbeiten ist nicht unbedingt mein Geschmack. Aber wer A sagt, muss auch B sagen!

Es ist 18:00 Uhr als ich wieder Zuhause bin. Schnell etwas essen, dann endlich duschen, noch eine Tablette und ab zur Probe. Es geht, auch wenn sich die Leichtigkeit wegen der Schmerzen nicht einstellen will. Aber ich habe es versucht! Hans, der Pipe Major, entlässt die Drums vor der Zeit, "um mit den Pipes allein zu proben": Im Klartext bedeutet dies, dass Hans die Drums entlässt, um mich zu schonen! Ich bin dankbar dafür, aber ich sehe schon, dass ich meinen Nachfolger aufbauen muss...

Ein "Freundschaftsbuch" kreist: Eine unserer Piperinnen wird derzeit in einem Krankenhaus in Amsterdam behandelt: Sie hat eine akute Leukämie und wird in diesen Tagen transplantiert. Die Band versucht auf diese Weise, ihr Mut zu machen. Ich denke mir mein Teil und wie ich meinen Beitrag leisten kann. Ich denke hierbei auch an den Krebs-Artikel... 

Gegen 23:00 Uhr wieder daheim. Schnell noch zwei Briefe schreiben, die Fotos vom Biotop auf die Platte spielen, und, und, und... 

Ich finde, dass dieser Tag für Jemanden, der jeden Augenblick in wenigstens zwei Teile zu zerbrechen droht, doch recht ordentlich war. Nicht nachlassen: Weiter, weiter, immer weiter...

03.10.04

Ich bin nun fast zwei Wochen 'runter vom Interferon. Die Knochenschmerzen haben sich deutlich gebessert, nur stehen kann ich nicht lange, ohne Kreuzschmerzen zu bekommen. Die Lebenslust kehrt zurück, auch bin ich wieder aktiver und komme mit weniger Schlaf aus. So sind meine Tage wieder länger, ich kann mehr schaffen und bin so wesentlich zufriedener mit mir.

Ich musste ein zweites Mal nach Essen: Es wurde doch noch "ein wenig" Blut gebraucht. Auch wird in Essen erneut diskutiert, ob es sich bei mir statt um ein NHL (Non Hodgkin Lymphom) vielleicht doch um eine CLL (chronisch lymphatische Leukämie) handelt. Mir soll es recht sein, wenn sich dadurch für mich verbesserte therapeutische Möglichkeiten öffnen. Neu ist diese Diskussion nicht: Nur am Anfang hatte ich diesen riesigen Milztumor; nach dessen Entfernung stellte sich der weitere Verlauf als Blutkrankheit, mithin leukämisch dar...

Am Samstag habe ich beim Spaziergang im Wald eine junge Frau getroffen, die mich zu meiner Verwunderung mit Namen ansprach. Ich konnte sie nicht einordnen und bat sie um Hilfe: Es stellte sich heraus, dass sie Redakteurin der hiesigen Lokalzeitung ist. In der Vergangenheit habe ich den einen oder anderen Leserbrief geschrieben und auch mein Engagement für die Feldbogenschützen inklusive der zugehörigen Pressearbeit haben mich wohl in der Redaktion zu einer bekannten Größe gemacht.

Wir kamen ins Gespräch und hatten Zeit dazu: Die Hunde waren miteinander beschäftigt... Es stellte sich heraus, dass ihr Vater ebenfalls an Leukämie erkrankt und nach der zweiten Transplantation schließlich gestorben war. Als wir uns trennten gab ich ihr meine Karte und lud sie ein, meine Homepage und vor allem dieses Tagebuch zu besuchen. Im Scherz bemerkte ich, dass jetzt eigentlich ein "Dr. med." auf die Karte gehöre.  In Reportermanier hakte sie sofort nach und kitzelte aus mir heraus, dass ich meine Arbeit soeben und mit recht befriedigendem Erfolg abgeschlossen habe. "Da sollte man doch eigentlich einen Bericht machen!" so ihre Worte; "Wenn es denn jemandem nutzt!" war meine unverbindliche Antwort.

Wir trennten uns, aber eine Idee klopfte bei mir an: Warum nicht eine Reportage machen darüber, was mich in den letzten Jahren am Leben gehalten hat? Kurz nach der Diagnose las ich in der Frankfurter Rundschau einen Artikel über einen Krebspatienten, der mit seinem Schlittenhund durch die Welt radelte: Extremes Radfahren war seine Methode, gegen den Krebs anzugehen. Die Überschrift über dem Artikel lautete: "Du brauchst ein Ziel, sonst stirbst du!" Dieser Artikel hat mir damals sehr viel Mut gemacht. Ich setzte mir allerdings andere Ziele: Die Gründung eines Vereines, die Ausrichtung eines Symposions, die Gründung einer Akademie und schließlich, mutiger werdend, die Dissertation.

Die Doktorarbeit ist im Resultat sicherlich prima, für mich war aber etwas völlig anderes wichtig: Die Arbeit zwang mich zum Überleben. Und doch ist da mehr: Gerade war eine Olympiade und wieder wurde die Flamme von Läufer zu Läufer weitergegeben. Ich fühle mich ähnlich: Ich habe die Flamme von diesem Radfahrer übernommen und lange Jahre getragen. Ich weiß, dass mein Zustand sehr zerbrechlich ist: Von heute auf morgen kann es vorbei sein mit der Herrlichkeit -  das Interferon-Intermezzo hat das ja soeben nachdrücklich gezeigt. Ich weiß, dass ich zumindest die Idee der Flamme weitergeben muss: Deswegen quäle ich mich so mit der Homepage, deswegen versuche ich , meinen Mitpatienten in der Chemotherapie Mut zu machen! 

Und ich versuche, meine Mitpatienten zum Lachen zu bringen: Ich mache mich zum Narren in der Chemotherapie und in der onkologischen Ambulanz, weil Humor die beste Medizin gegen den Krebs ist. Oft betrachten Krebspatienten den Krebs wie ein Kaninchen die Schlange. Als Arzt und Narr kann ich sie ermuntern, die Lähmung zu überwinden und "loszuhoppeln". 

Hinzu kommt, dass ich ja mit meiner Leukämie über einen langen Zeitraum Erfahrungen sammeln konnte: 13 Jahren sind wirklich eine lange Zeit! Für jemanden, der gerade erst seine Krebsdiagnose bekommen hat bin ich jemand, der alle Höhen und Tiefen schon durchlitten hat und immer noch lebt. Allein das macht schon Mut, auch wenn man natürlich die unterschiedlichen Tumore nicht über einen Kamm scheren kann. Aber es macht Hoffnung, und diese Hoffnung ermöglicht vielleicht einen ersten und dann einen zweiten Schritt und ehe man sich's versieht ist man in Bewegung...

Warum nicht in der Zeitung vordergründig über die Doktorarbeit schreiben, tatsächlich aber dies als Aufhänger für das eigentliche Thema nehmen? Warum nicht auf diesem Weg denjenigen, die es angeht, Mut machen?

30.09.04

Ein großer Tag, ein Tag der gefeiert gehört! Vor mir steht ein winziges Glas mit der Idee eines Hauches von Whisky. Ein Knoten ist geplatzt in meinem Kopf, ein Problem, dass ich nun 13 Jahre mit mir herumschleppe wie eine Gefangenenkugel, scheint endlich lösbar.

Wie der Whisky duftet! Es gab nur 264 Flaschen aus diesem Fass. Gebrannt wurde er 1973, da war ich 16 Jahre alt. Man hat ihm 27 Jahre Zeit gegeben zu reifen, 2001 wurde er schließlich auf Flaschen gezogen. Ich weiß, wie er schmeckt, nach Torf und Rauch und Highlands. Man kann ihn nicht trinken, nur einatmen. 

Seit 13 Jahren habe ich ein Gift in mir, das Gift der Schande. Nicht, dass ich mich schändlich verhalten hätte: Ich war das Opfer. Und doch wirkt dieses Gift bis auf den heutigen Tag. Wie die Kraft dieses Giftes brechen, wie Frieden machen?

Ich habe einen Brief geschrieben, um diese alte Wunde endlich zum Abheilen zu bringen. In dieser Form abschicken? Niemals! Aber es ist ein erster Schritt zum Verzeihen, und jede Reise fängt mit dem ersten Schritt an.

Ich atme...

27.09.04

In den letzten Tagen erreichten mich besorgte Anfragen: Was los sei? Ich schreibe nicht mehr, auch nicht ins Tagebuch! - Tja, was war los? Man muss wohl einerseits körperliche und seelische Beschwerden voneinander trennen, andererseits aber bedingen sie einander. Das Resultat war, dass ich nicht schreiben konnte.

Wer ein wenig im Tagebuch zurückblättert wird meinen Versuch nachvollziehen können, die Nebenwirkungen des Interferon mit Humor zu tragen. In der Tat war dieser Versuch durchaus erfolgreich: Auch mit zusammengebissenen Zähnen kann man schmunzeln, und schmunzelnd lassen sich die Schmerzen - die Ursache für die zusammengebissenen Zähne - besser ertragen.

So weit weg von der Wahrheit ist Waechter's Hammerverein nicht: Ich fühlte mich zerschlagen, und kaum hatte ich mich erholt war auch schon die nächste Dröhnung fällig. Es ist Montag heute, und am Freitag habe ich zuletzt gespritzt. Obwohl diese "große Freizeit" hinter mir liegt, spüre ich jeden Wirbel und das Becken so deutlich, als hätte ich gerade eine dreistündige Parade mit meiner Bass Drum hinter mir... Gestern, ohne jede Ursache, entwickelten sich plötzlich Schmerzen im rechten Fuß, ein Gefühl, als wenn ich mir den Fuß vertreten hätte. Ich habe die Runde mit den Wuffeln fortgesetzt, obwohl es mir anfangs unmöglich schien. Wieder daheim hätte ich am liebsten das ganze rechte Bein abgeschraubt... Ach ja, die Hunde: Ich entdecke auf einmal die Bänke in der Landschaft und freue mich darauf, wenn ich ein wenig verschnaufen kann. Noch vor wenigen Wochen habe ich sie kaum wahrgenommen: Ich brauchte sie nicht...

Und natürlich nehme ich diese körperlichen Beschwerden, diesen plötzlichen Verfall wahr. Und natürlich frage ich mich , ob das jetzt das Ende ist. Das ganze Jahr 2004 war geprägt von Schmerzen - angefangen mit der Gürtelrose im Dezember/Januar bis hin zu den Nebenwirkungen des Interferon jetzt - und dem Versuch, die Leukämie irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Und ich erinnere mich, wie ich vor einem Jahr war und sehen nun den alten Mann, der kaum noch einen Wäschekorb die Treppe hinaufbekommt. Und natürlich legt sich ein Schatten auf die Seele...

Wieder ein Schmunzeln: Ich erinnere mich, wie ich im Dezember noch tönte, mit Schmerzen könne ich wohl umgehen... Nein, ich bin eine Memme! Schmerzen kann ich nicht gut ertragen, und Dauerschmerzen zermürben auch einen MacBumm. ;-)

Aber es gibt Schlimmeres: Da ist z.B. die Zeitfrage! Als vor einem knappen Jahr die Brühe hoch kochte habe ich einen Arbeitsplan, eine Agenda erstellt. Oh, trotz alledem, trotz Chemo und alledem, habe ich große Teile abgeschichtet: Die Diss ist endlich fertig, das Bogenbau-Projekt ist fast abgeschlossen, ebenso viele andere Beiträge zur Homepage. Und doch ist noch so vieles  unerledigt...

Die BassMafia nimmt wieder Fahrt auf, das ist erfreulich! Und auch im Biotop geht es voran, dank meiner fleißigen Indianer! Und doch habe ich mich in der letzten Woche von der Band "beurlaubt" in der Erkenntnis, dass ein kranker Bass Drummer zum Ballast für die Band wird: Es muss ein Vakuum sein, damit ein Neuer meinen Platz einnehmen kann. Es hat weh getan!

Heute morgen war ich in der Uniklinik Essen: Mein Onkologe und ich waren an einer zweiten Meinung interessiert. Ich habe ein wenig in den (Zeit-)Spiegel geschaut: Mir gegenüber saß ein erfrischend junger Kollege, und ich konnte spüren, dass er weiß, wovon er spricht: Wir haben gemeinsam die Unterlagen durchgehechelt, und er hat sich fleißig Notizen gemacht für die onkologische Konferenz. Aber viel wichtiger für mich waren die Nebensätze: 'Mit dem Interferon habe sie wohl wenig Wirkung und viel Nebenwirkung...'; 'Natürlich ist beim Interferon auch eine Wirkung auf die Psyche gegeben...'.

Da sind einerseits diese zermürbenden Schmerzen, andererseits ist da die Beobachtung meines körperlichen "Zerfalls" und die Bestürzung darüber; sollte das Interferon das alles noch mit einem "depressiven Zuckerguss" überzogen haben? Depressive Phasen, Phasen der Hoffnungslosigkeit, sind nichts neues für mich: So gesehen trage ich auf zwei Schultern... Aber ich muss klar erkennen, dass ich mich in der letzten Zeit tatsächlich gefühlt habe wie Kafkas Maus im letzten Zimmer...

Ich muss den Kollegen bitten, nicht so zu sprudeln: Eigentlich sei ich doch Chirurg und daher nicht so gut mit dem Onkologen-Slang vertraut. Also sprudelt er langsamer, wohl in der Annahme, Chirurgen seien die Blondinen der Medizin, und zeigt mir trotzdem ratz-fatz verschiedene therapeutische Möglichkeiten auf. Selbst meine Frage, ob ich denn möglicherweise auch für eine Hochdosistherapie (Knochenmarktransplantation) in Frage komme, beantwortet er positiv, wenn auch mit der Einschränkung, dass man hier nicht von einem kurativen Ansatz ausgehen dürfe, sondern lediglich Zeitgewinn erstreben könne.

Zeitgewinn! Guter Mann! Was will ich mehr?

Sein abschließender Rat: Interferon reduzieren oder absetzen und abwarten, wie sich die Dinge entwickeln: Vielleicht bilde sich ja ein Plateau: 100.000 oder 200.000 Leukos machten ihn nicht nervös - wenn die Klinik stimme.

Draußen regnet es, als ich das Haus verlasse. Ich bin etwas beduselt: Viel Information in kurzer Zeit. Vor dem Parkscheinautomaten eine lange Schlange. "Deubelschlach!" entfährt es mir, als ich sehe, was ich zahlen soll. "Fünf Mark für eine Stunde! Die nehmen 's aber von den Lebendigen!" "Von den Toten ist auch nichts mehr zu holen!" höre ich hinter mir in der Schlange eine Männerstimme... Wie recht er doch hat!

Ich habe heute Abend nicht gespritzt. Stattdessen steht hier ein kühles Bier. Prost!

13.09.04

Vor einem guten Jahr habe ich die Patenschaft für ein Biotop hier in Suderwick übernommen. Seitdem habe ich eine Menge Arbeit am Hals: Es handelt sich um drei Tümpel, die ziemlich heruntergekommen sind... Vom Oktober bis zum April war ich damit beschäftigt, Bäume zu fällen, die die Tümpel beschattet und mit ihrem Laubabwurf für deren Verlandung gesorgt haben. Nun, da die Bäume gefällt sind und die Sonne das Biotop bescheint, schiessen natürlich die Brennnesseln auf Übermannshöhe. Zwei der drei Tümpel sind verlandet, der Bagger muss her. Aber zuvor muss erst einmal Übersicht geschaffen werden. In der letzten Woche bin ich angefangen mit dieser Arbeit: Eine grüne Hölle stand mir gegenüber. Mühselig habe ich mir einen Zugang zum Ost-Teich verschafft: Drei Striche mit der Sense - Pause - und wieder drei Striche... Natürlich habe ich dem Heimatverein als Schirmherrn Bericht erstattet über den Fortschritt der Arbeit. Am Wochenende dann ein Anruf: Eine sehr resolute Frauenstimme teilt mir mit, dass am Montag um 15:30 Uhr vier Helfer zu meiner Verfügung stünden: Ob das in Ordnung sei? "Klar," sage ich, "gerne!"

Es kommen zwei Jungs, die nach kurzer Zeit feststellen, dass T-Shirt und Brennnesseln nicht so toll zusammengehen. Sie fahren mit ihren Rädern heim und kehren mit Sweatshirt und Overall und einem dritten Helfer zurück. Und dann legen sie los - mit Haumesser und Sense und Harke, dass es mir fast die Tränen in die Augen treibt: Diese Kraft, diese Energie ist einfach nur beneidenswert!

In einer Pause kommen wir ein wenig ins Gespräch. Und ich nehme seltsame Gedanken war: "Wir sind nur Hauptschüler..." höre ich - und: "Wir sind faul..." Und ich weiß auf einmal, wie ich mich bei diesen fleißigen Jungs bedanken kann: Der Eulenspiegel in mir hält ihnen den Spiegel vor! Diese Jungs halten sich selbst für faul, obwohl sie doch fleißig sind... Ich sage: "Deubel, ihr habt mächtig zugelangt!" Sie sagen, sie seien nur Hauptschüler... Ich sage: "Seid stolz auf euch! Ihr seid Praktiker, habt ein Gefühl für die Arbeit! Ein vernünftiger Meister wird lieber euch einstellen als einen Gymnasiasten mit zwei linken Händen..." 

Was laufen hierzulande nur für Lehrer herum? Da denkt ein Hauptschüler allen Ernstes, er sei "nur" ein Hauptschüler und damit minderwertig! In meinen Augen gibt es keine schlechten Schüler - nur schlechte Lehrer! Ein Lehrer, dem es nicht gelingt, seine Schüler zu begeistern für das jeweilige Fach, der hat versagt! Ein Lehrer, dem es nicht gelingt, seinen Schülern Selbstachtung und Stolz auf das eigene Können und Sein zu vermitteln, ist ein Versager! Wohlgemerkt: Nicht der Schüler versagt, es ist der Lehrer!

Da stehe ich akademischer Klugscheißer am Rande eines Tümpels und erkläre den Jungs, dass hier der Rohrkolben entfernt werden müsse - und habe keine Idee, wie ich das anstellen soll. Einer der Jungs nimmt kurzerhand einen Stock und sondiert die Stärke der Schlammschicht: "Das müsste mit Stiefeln machbar sein - soviel Schlamm ist das ja nicht..." so sein Kommentar. "Wir könnten doch auch einfach ein Brett auflegen - dann verteilt sich das Gewicht besser..." schlägt ein anderer vor. 

Nur Hauptschüler??? Mit solchen Indianern mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft! Sorgen machen mir da eher die Häuptlinge...

... und da die Arbeit nicht an einem Nachmittag bewältigt werden kann schlagen sie vor, morgen wiederzukommen und vielleicht noch wen mitzubringen. Soviel zum Thema Faulheit! Noch Fragen?

11.09.04

Vor einigen Tage habe ich aus Dortmund eine Email bekommen: Für die Quintet Competition im Rahmen des 1. Dortmunder Bagpipe-Tags am 09. Oktober 2004 würde noch ein Bass Drummer gesucht...

Meine Antwort:
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Tach K.,
grundsätzlich bin ich frei, grundsätzlich hätte ich auch Lust. Das Problem ist, dass ich seit kurzem Interferon nehme, um die Leukämie im Schach zu halten. Die Nebenwirkungen sind für mich derzeit noch nicht klar einzuschätzen: Teilweise stecke ich's weg wie ein Glas Buttermilch, teilweise bin ich stark angeschlagen. Ich muss am Freitagabend spritzen, aber wenn ich mich früh spritze kann ich am Samstagmittag fit sein. Die Competition ist am Nachmittag - wenn die Kollegen bereit sind, ein gewisses Restrisiko einzugehen, dann will ich wohl die Zähne zusammenbeißen und meinem Spitznamen alle Ehre machen... ;-)
Tüskes!   MacBumm
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In heroischem Selbstversuch habe ich das Interferon gestern schon um 20:00 Uhr gespritzt und nicht wie bisher erst gegen Mitternacht. Was soll ich sagen: Es funktioniert! Zwar hat mich in der Nacht der Münsteraner Hammerverein offensichtlich doch wieder ordentlich durchgelassen, aber gegen 10:00 Uhr heute morgen war ich annähernd schmerzfrei und einsatzbereit. Mit anderen Worten: Dortmund ist machbar!

Gegen Abend bin ich wie ein siegreicher Gladiator durch den Garten stolziert: Weil ich so früh fit war, habe ich echt viel geschafft heute: Im Garten, in der Werkstatt, im Haus... - Wie üblich handelte es sich wohl um ein Kommunikationsproblem: Mein Onkologe gab mir den Rat, das Interferon ca. eine Stunde vor dem Schlafengehen zu spritzen. Das habe ich auch getan: Als Nachtmensch bedeutet das für mich frühestens gegen Mitternacht, eher später... Dass die Nebenwirkungen mir dann den nächsten Tag versauen habe ich schicksalsergeben hingenommen. 

Durch das Experiment habe ich nun gelernt, dass es auch anders geht: Frühes Spritzen bedeutet nicht, dass ich dann sofort abbaue: Die Nebenwirkungen kommen relativ langsam, ich muss also meinen Lebensstil nicht verändern. Aber es ist gut, den Gipfel der Nebenwirkungen so früh wie möglich zu erreichen: Es sind die Nachwirkungen, mit denen man zu kämpfen hat. Wenn ich gegen Mitternacht spritze, dann bin ich am nächsten Tag gegen Mittag immer noch KO. Spritze ich gegen 20:00 Uhr, dann habe ich ab 8:00 Uhr morgens Licht am Ende des Tunnels.  Es braucht 12 Stunden, um wieder in den Takt zu kommen...

Fazit: Durch ein kleines Experiment  habe ich mir einen ordentlichen Batzen Lebensqualität zurück erobert. Wie es nun auch laufen mag, ob Hanno & Co mich als Bass Drummer brauchen oder nicht: Der erste Gewinner des Dortmunder Bagpipe-Tags steht fest...

08.09.04

Ein wunderschöner Altweibersommertag! Anke hat mich wieder ausschlafen lassen, und wieder liegt die Zeitung neben mir, als ich aufwache: Eine schöne Geste... Ich brauche viel Schlaf, seitdem ich das Interferon nehme. Und wer mich kennt, der weiß, wie sehr ich den Schlaf hasse: Dafür ist noch Zeit genug! Andererseits: Ich träume viel in letzter Zeit, und die Träume sind gute Navigationshilfen für mich...

Heute bin ich früh aufgewacht. Wichtiger: Ich bin schmerzfrei aufgewacht, nicht zerschlagen! Ich bin aufgestanden, habe mir einen Kaffee gekocht, ein paar Knabbeln eingestippt und bin dann den Tag ruhig und vergnügt angegangen. Ich habe vor mich hingekraost, dies und jenes gemacht, bin von Hölsken auf Stöcksken gekommen - und war nicht erschöpft! Ich war so schön in meinem Rhythmus, dass ich sogar die Bandprobe am Abend sausen lies: Ich wollte lieber mit mir alleine sein...

Es gibt da ein Album von Roxy Music: Avalon. So ungefähr war dieser Tag: Ein sanftes Schweben, besinnlich, weich...

Habe ich eigentlich schon mal gesagt, dass ich unendlich dankbar bin für dieses Geschenk "Leben"?

05.09.04

Im Februar 1975 wurde in der "Welt im Spiegel", der wohl unübertroffenen Nonsens-Beilage des Satire-Magazins "pardon", F. K. Waechters nebenstehender Cartoon veröffentlicht, an den ich nun wiederholt erinnert habe: Ein gewisser kleiner Thomas ist neben dem Münsteraner Hammerverein Hauptperson - er bekommt eine tüchtige Abreibung verpasst.

Warum benutze ich dieses Bild? Man versetze sich in die Person des kleinen Thomas: Wie mag er sich wohl fühlen, nachdem der Hammerverein mit diesen großen Hämmern auf ihn eingedroschen hat? Es kann nur eine Antwort auf diese Frage geben: Zerschlagen wird er sich fühlen, der kleine Mann...

Es hat mich in den letzten Tagen wieder etwas mehr in den Garten gezogen... Zudem eine Silberhochzeit in der Nachbarschaft: Birken mussten geschlagen, ein Kranz geflochten werden... Gestern schließlich ein Auftritt mit der Band: Auf halber Strecke musste ich kämpfen, die Arme hoch zu bekommen... Gegen 17:00 Uhr endlich wieder daheim und völlig zerschlagen ins Bett gefallen.

Das waren alles keine wirklichen Belastungen, von denen ich da gerade erzählt habe. So bitter es ist: Diese kleinen Spielereien gehen inzwischen über meine Kräfte. Hans, der Chief der Highland Valley PD, versteht meine Bitte: Er klopft mir aufmunternd, aber auch bedauernd auf die Schulter und sagt zu, sich für den Auftritt am nächsten Wochenende um einen Ersatzmann für mich zu bemühen. Ich nicke zustimmend - und fühle mich wie der kleine Thomas...

Schwindsucht - ein alter Ausdruck für konsumierende Erkrankungen... Ich erlebe am eigenen Körper, dass mit diesem Ausdruck nicht nur die Tuberkulose, sondern auch der Krebs gemeint sein muss...

28.08.04

Ein anderer Traum: Ich gehe allein durch die Nacht und komme an einer alten Schule vorbei. Ich sehe ein Flackern - kleine Flammen züngeln an einem Fenster. Die Tür ist auf, ich kann ohne Probleme zu den Flammen vordringen. Es handelt sich um ein altes Radio, das zusammen mit Lumpen und anderem Abfall auf einer Fensterbank steht. Ich greife mir das Radio und bringe es nach draußen, wo es keinen weiteren Schaden anrichten kann. Dann hole ich auch den restlichen Müll und meine, so die Brandursache beseitigt zu haben. - Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass ein Springbrunnen lichterloh brennt. Dieses Problem überlasse ich der inzwischen angerückten Feuerwehr: Es liegt nicht in meiner Macht, einen brennenden Springbrunnen zu löschen...

Ein weiser Traum! Es schmeichelt das Bild von der alten Schule: Wer möchte sich nicht so sehen... Ich kann meine (alten) Sachen regeln, hier für klare Verhältnisse sorgen. Aber wie soll ich einen brennenden Springbrunnen löschen? Wenn Wasser brennt, ist Spezialwissen erforderlich... Wenn Wasser brennt, dann muss eine ganz besondere Feuerwehr her: Ich denke, es ist an der Zeit, sich in Essen vorzustellen. In Essen kann vielleicht durch eine Knochenmarktransplantation das "brennende Wasser" gelöscht werden...

26.08.04

Ein wunderschöner Tag liegt hinter mir. Das Bogenbau-Projekt neigt sich dem Ende zu: Ich werde ruhiger, spüre, dass ich mal wieder Raubbau mit meinen Kräften getrieben habe. Ich mache das Frühstück für Anke und gönne mir danach noch etwas Bettruhe...

Im Traum finde ich mich an unserer Scheune wieder, und es wird wie blöde über und um die Scheune herum geschossen. Mir geht ein Shakespeare-Zitat durch den Kopf: "Ich habe einen Pfeil über das Haus geschossen und meinen Bruder verletzt..." Zu den anderen sage ich: "Liebe Leute, wir haben uns nun soviel Gedanken über Sicherheit gemacht, da könnt ihr doch nicht so gedankenlos durch die Gegend ballern!" Just in diesem Augenblick wird "Prinz" von einem Pfeil in den linken Oberarm getroffen und bricht zusammen. Ich laufe hin und sehe mir den Schaden an: Der Pfeil hat den Oberarm durchschlagen und steckt im Thorax. Ich kümmere mich, beruhige den Prinzen - und wache auf.

Es sind aktuelle Anteile in dem Traum, Anteile, die ich aktuellen Vorgängen im Verein zuordnen kann. Und es sind alte Anteile: Der Prinz hat sich vor Jahr und Tag tatsächlich mit einem Pfeil verletzt, als dieser sich im Schuss zerlegte und die linke Hand durchbohrte... Natürlich klopft auch die Dissertation an... Und da sind Anteile, die ich mit mir verknüpfen muss: Mein Unvermögen, dieses Chaos zu unterbinden... Der Pfeil als Krankheitssynonym, von Krankheit getroffen und niedergestreckt zu werden...  Meine Reaktion angesichts der Verletzung: Eine gelinde Panik, die Angst, den Prinzen zu verlieren... 

Ich bin der Prinz, ich bin getroffen! Mir gilt die Sorge, auf die mein Unterbewusstes mich aufmerksam zu machen versucht! Mir gilt die Panik, die Angst... Wenn mein Unterbewusstes mir in so massiver Form zuspricht, dann ist wohl die bewusste Sicht der Dinge so falsch nicht. Ich bin sehr erleichtert, dass ich meine Angelegenheiten weitestgehend geordnet habe: Das Testament ist seit Jahren geschrieben, in den letzten Wochen habe ich dafür gesorgt, dass die Informationen, die ich in den letzten Jahren zusammengetragen habe, nicht verloren gehen. Es ist ein gutes Gefühl, in dieser ernsten Situation nichts ändern zu müssen: Es ist, wie es ist, und ich kann ruhig weiterarbeiten - solange ich kann. Früher oder später (ich hoffe später! ;-) werde ich ausfallen. Alles weitere wird sich finden...

Ich mache blau, der Schreibtisch sieht mich heute nur für kurze Zeit. Eine ruhige Runde mit den Hunden, und dann nehme ich mir die beiden Gartentische vor, die ich auf dem Sperrmüll gefunden habe. Was die Leute nicht alles wegwerfen! Es handelt sich um gute, alte Gartentische mit soliden Holzplatten und klappbarem Metallgestell. Ich kratze, schleife und hobele, und am Abend haben beide Tische den ersten Anstrich.

Manchmal glaube ich zu wissen, warum ich soviel Energie in alte Dinge stecke, die andere bereits weggeworfen haben: Es war eine böse Kränkung für mich - schlimmer als die Krebsdiagnose! - als mir wegen dem Krebs gekündigt wurde. Ich hatte das Gefühl, auf den Müll geworfen zu werden: Und ich hätte durchaus und gerne noch funktionieren können für gute Zeit...  Ich traue diesen Tischen zu, noch lange Jahre guten Dienst zu tun. Und darum denke ich, dass sie mein Engagement, meine Mühe wert sind. - Was also ist der Unterschied zwischen der Klinikleitung, die mich damals feuerte und mir? Ich habe ein Gefühl für Qualität, und ich vertraue diesem Gefühl...

22.08.04

Es hat sich gut abgekühlt: Vielleicht war ja der Nachtschweiß der letzten Zeit wirklich nur Ausdruck der sommerlichen Temperaturen und weniger der "B-Symptomatik"... Auf jeden Fall habe ich wieder herrlich geschlafen, ohne auf halber Strecke völlig verklebt aufzuwachen...

Der Abend davor furios: Ein "Schottischer Abend"  in einer Bocholter Kneipe. Ich hatte meinen Kilt angezogen, und selbstverständlich lag meine Bass im Wagen. Wir, also Anke und ich, betraten die Kneipe und wurden von der Band herzlich empfangen: Es waren die Jungs aus Mettmann. In weniger als zwei Minuten wurde ich aufgefordert, die Bass zu holen - und dann ging eine wirklich gute Session ab... Es ist einfach herrlich, sich mit Leuten gleicher Ausrichtung spontan zu verstehen: Ein wirklich gutes Gefühl, und genau so war die Musik!

Die Dinge ordnen sich: Nachdem die Uni meine Diss und dieses Tagebuch auf ihren Server nehmen will und die BAG meine Pipes&Drums - Seiten, habe ich heute Post vom "Traditionell Bogenschiessen" bekommen: Sie wollen meine "Pfeil & Bogen" Seiten auf eine separate "Info"-Domain packen: Als Keimzelle für ein umfassendes Bogenportal...

Gut: Meine Seite wird aufgeteilt, aber - trotz allem damit verbundenen Informationsverlust - das Gros der Informationen wird erhalten bleiben. Es lebt (und stirbt) sich besser in dem Gefühl, die Dinge geordnet zu haben. Leider interessiert sich keine Sau für die Gedichte, die mir so am Herzen liegen...

21.08.04

Endlich mal wieder eine Nacht, in der ich nicht geschwitzt habe! Das Interferon habe ich gut weggesteckt: Lediglich Knochenschmerzen am Morgen erinnern mich daran, das etwas war. Schnell eine Tablette Paracetamol eingeworfen, und knapp eine Stunde später bin ich beschwerdefrei.

Es ist spät geworden gestern: Nach Abschluss des Zugmesser-Abschnittes in der Bogenbauer-Werkzeugkunde trieb es mich mit Macht in die Werkstatt: Ich habe mir mein Zugmesser vom Trödel vorgenommen und es auf Fordermann gebracht. Das Ende vom Lied: Eine herrliche Klinge! ... die sich auch prompt für meine Arbeit bedankt: Eine leichte Berührung der Klinge mit dem rechten Kleinfinger macht eine absolut schmerzfreie, saubere Schnittwunde - die mächtig blutet. Nachdem die Blutung steht kommt das Messer zurück in seine Scheide: Jeder Gurkha wäre stolz auf mich... ;-)

Auch ich bin zufrieden: Statt tüchtig zu arbeiten hätte ich mich auch ins Bett legen und auf möglicherweise auftretende  Nebenwirkungen des Interferon warten können. Nein, nicht wirklich, oder? ;-)

20.08.04

Ich habe ein neues Spielzeug: Einen Pen! Diabetiker benutzen derartige "Füller", um sich ihr Insulin zu spritzen; ich spritze mir nun Interferon damit. 

Interferon, eigentlich ein körpereigener Botenstoff, der im Falle einer (Virus-) Infektion den Körper in Alarmbereitschaft versetzt und das Immunsystem mobilisiert. Ich gebe zu, dass mir ein wenig mulmig ist bei dem Gedanken, mein sowieso durchgeknalltes Immunsystem zu mobilisieren, um so den Krebs einzudämmen.

Aber was bleibt mir, als dem Rat der Weisen zu folgen: Sie werden wohl wissen, was sie tun - und sicherlich wollen sie nur mein Bestes...

Verwunderlich aber die Reaktion der Hunde, als ich die Hosen 'runterlasse, um mich zu spritzen: Sie wissen ganz genau, was eine Nadel ist! Ihren Blicken zufolge sind sie wohl ernsthaft in Sorge um meine Geistesverfassung als sie sehen, dass ich mir selbst eine Nadel in den Oberschenkel treibe ...

Freuden des Landlebens I
Gestern wollte ich den Rasen mähen: Es war mal wieder Zeit. Voller Elan ging ich an die Sache - um ganz schnell den Rasenmäher wieder abzustellen: Mein Rasen lebt! Viele winzig kleine Frösche hüpften auf einmal durch die Gegend: Ein Froschregen!!! Zum dritten Mal in meinem Leben darf ich so etwas erleben: Als kleines Kind sah ich den heimatlichen Schulhof voller Frösche: Was für ein Wunder! Vor gut zehn Jahren schwamm ich in einem kleinen Teich irgendwo in Bayern: Am gegenüberliegenden Ufer angekommen sah ich - Frösche, Frösche, Frösche... Und nun in meinem eigenen Garten - wieder dieses Wunder! Was verleitet diese kleinen Hüpfer wohl dazu, wie auf Kommando so einen Massenstart ins Leben hinzulegen? Ist es nicht toll, diesen hundert-, tausendfachen Optimismus zu erleben? Nein, wirklich: Sie scheinen breit zu grinsen...

Freuden des Landlebens II

Wir sind mal wieder unterwegs, die Hunde und ich, und  kommen an eine Weide vorbei, auf der ein mächtiger Bulle mit seiner Herde steht.

Eine Kuh, die gerade ihr Kalb säugt, pinkelt in armdickem Strahl. Sofort ist der Bulle da, schleckt die letzten Tropfen auf und prüft den Hormonstatus... 

Er schließt konzentriert die Augen, stülpt die Oberlippe auf und schnaubt geräuschvoll.

Sein Gehabe erinnert mich mächtig an einen weltberühmten Talkmaster und Hobbykoch:
Alfred B. kann einen ähnlichen Flunsch ziehen und ähnliche Geräusche von sich geben, wenn er im Rahmen seiner Kochsendung einen Wein verköstigt...

Danach  wendet sich der Bulle wieder ruhig dem Gras zu: Die Kuh ist noch nicht so weit... 

Wir Menschen betreiben riesige Labors - der Bulle leckt ein wenig Urin und weiß, was Sache ist. Sogyal Rinpoche hatte recht: Wir sollten uns ein Beispiel am Rindvieh nehmen - und das Leben leichter, einfacher.

10.08.04

Große Freude über die aktuellen Laborwerte: Die Leukos sind innerhalb von 14 Tagen nur von 20.000 auf 27.000 gestiegen statt sich - wie erwartet - auf 40.000 zu verdoppeln. Wieder etwas Zeit gewonnen...

Und die Zeit wird ordentlich genutzt: Das Bogenbau-Projekt mit Martin nimmt zusehends Form an - und wir haben einen Mordsspaß dabei!

09.08.04

Breuberg, das heißt die Sommerschule der "Bagpipe Association of Germany" auf Burg Breuberg, liegt hinter mir, und damit eine sehr intensive und anstrengende Woche. Besonders zufrieden bin ich damit, die körperliche Belastung tadellos weggesteckt zu haben: Mit der Bass bei hochsommerlichen Temperaturen auf grobem Kopfsteinpflaster wirklich steile Wege zu bewältigen - das soll mir mal ein Gesunder nachmachen! In diesem Jahr waren wir nur mit 1,5 Bass Drummern in Tyler Fry's Bass & Tenor Kurs: Olli von der Stuttgart University PB hatte wie schon im letzten Jahr zwei Kurse belegt: Vormittags Piping, nachmittags Drummin'. Im Resultat führte das dazu, dass ich beim Ceilidh am Samstag ein gefragter Mann war: Wenn ich mit der einen Band gerade ausmarschiert war, konnte ich mich auf der Hacke umdrehen und gleich mit der nächsten Band wieder auf die Bühne gehen. Breuberg ist immer wieder ein ausgefuchstes Konditionstraining, und es macht mich stolz, nach einem halben Jahr Chemotherapie und davon deutlich gezeichnet diese Belastung doch durchgestanden zu haben. Es sind die guten alten Tugenden Geduld und Disziplin, die in Augenblicken der Schwäche doch noch versteckte Reserven mobilisieren können - und über allem natürlich die Liebe zur Musik: Es ist immer wieder faszinierend, die Wirkung des Kommandos "Rolls"  zu erfahren - ein Energiestoß, der auch die ausgelaugteste Batterie wieder mit Saft und Kraft erfüllt.

Ach, Geduld und Disziplin: Auch sie sind nicht grenzenlos...  Es ist erstaunlich, wie ein einziger Mensch so sehr an den Nerven zerren kann! Wie schützt man sich gegen unaufhörliches Geplapper - ohne Punkt und Komma, oft auch ohne Sinn und Verstand? Soll ich auf den Kurs verzichten? Oder doch die Zähne zusammenbeißen und gute Miene zum bösen Spiel machen? Manchmal ist eben neben Geduld auch einfach Tapferkeit gefragt: Das Ende des Kurses fest im Blick einfach nur durchhalten und ertragen. Vor zwanzig Jahren schenkte mir eine sehr gute Freundin einen alten Text: Desiderata.  Eine Zeile dieses Textes lautet:

Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann.

Genau das habe ich gemacht: Am Samstag morgen habe ich eine Auszeit genommen, die Gruppe einfach Gruppe sein lassen - und bin einfach in die Stille gegangen. Nicht dass ich die Burg deswegen verlassen hätte: Stille kann auch im Lärm sein... ;-)

Ärgerlich das Ganze, sicherlich... Aber ich bin ja auch kein Heiliger: Wenn ich auf irgendjemanden mit dem Finger deuten wollte - immer würden die anderen Finger der Hand auf mich zeigen. Es ist nur dieser Mangel an Taktgefühl (!), der mich bei einer Drummerin so erschüttert...

Neben dem Geplapper hatte ich einen weiteren unangenehmen Begleiter: Die Sorge, wie es wohl weitergehen mag mit mir. Oh - die Musik ist eine gute Hilfe, Sorgen und Ängste zu vertreiben. Und doch gibt es Augenblicke, in denen die Sonne durch eine Wolke verdüstert wird, Augenblicke, in denen die nackte Angst mich anspringt wie ein Raubtier: Ich liege ausgepumpt auf dem Bett und versuche, ein wenig Kraft zu schöpfen. Im Burggraben spielt ein Piper. Weil er wirklich gut ist, lasse ich diese "Störung" ohne zu großen Ärger zu und betrete diesen schmalen Grat zwischen Tag und Traum. Schweißgebadet schrecke ich auf, weil sich diese verdammte Frage wieder meldet: "Wie soll es weiter gehen?" Es ist so leicht, sich schlafen zu legen, wenn am nächsten Tag die Infusionen der Chemotherapie warten, aber diese völlige Ungewissheit, was die Zukunft wohl bringen mag, die Frage, ob es überhaupt Zukunft geben kann - dieser Zustand ist mörderisch.

In der Penne wurde mir von meinem Deutschlehrer ein Gedicht angeboten, das schon seit langer Zeit zunehmend an Aktualität gewinnt: 

   Ich möchte Leuchtturm sein
   in Nacht und Wind
   für Dorsch und Stint
   für jedes Boot-
   und bin doch selbst
   ein Schiff in Not!
                 Wolfgang Borchert

Wolfgang Borchert ("Draußen vor der Tür") starb jung, und offensichtlich hatte er die gleichen Sorgen...

"Wen die Götter lieben, der stirbt jung." heißt es. Um ehrlich zu sein: Ich pfeife auf die Liebe der Götter!

30.07.04

Völlig unspektakulär kam heute per Post die beglaubigte Kopie der Urkunde: Einfach nur ein Umschlag im Briefkasten...

Ab sofort darf ich mich also "Dr. med." nennen: Hoffen wir, dass es dem Fortschritt dient. Eben habe ich das Impressum ein wenig überarbeitet: Wen bisher die Inhalte nicht überzeugt haben, den überzeugt vielleicht der Titel... ;-)

Anke hat ein Jux-Foto von mir gemacht, mit Urkunde und Hut. Eigentlich hätte ich lieber meinen Mountain-Men-Hut getragen: Weil ich ihn bei meinen Spaziergängen mit den Hunden sowieso trage und weil O'Neill diesen Mountain-Men-Fall so elegant gelöst hat. Aber Anke meint, der Hut werfe zu viel Schatten, man könne mein Gesicht nicht sehen...

Also doch der Balmoral, den ich mir gerade nach historischem Vorbild habe machen lassen. Was sehe ich, wenn ich in Ruhe dieses Bild betrachte? Richtig! Ein grinsender Narr mit einem komischen Hut auf dem Kopf und einem Papier in den Händen. Du siehst das auch? Schön, dass wir die gleiche Wahrnehmung haben... ;-)

Was mich nur freut ist: Im November wird es in Münster eine Feierstunde geben. In diesem Rahmen werden die richtigen Urkunden übergeben. Habe ich einen Anzug? Haben die schon mal einen Kilt gesehen? ;-)))

29.07.04

Gelobt und gepriesen seien die Blutspender, ihre Kinder und Kindeskinder bis ins siebte Glied! Ihr Leben sei locker und flockig, und ihr Tod vergleichbar...

Heute habe ich zwei Blutkonserven bekommen: Luft - ich bekomme wieder Luft! Und die Treppen sind plötzlich auch nicht mehr so steil... ;-)

22.07.04

Der Tag beginnt mit Durchfall, Magenkrämpfen und Schweißausbrüchen. Nein, das hat nichts mit der Leukämie zu tun: Gestern habe ich den Termin für das Rigorosum bekommen, die mündliche Prüfung zur Doktorarbeit. Die Prüfung ist - heute!

Eine ausgiebige Runde mit den Hunden beruhigt ein wenig die Nerven und die Eingeweide, ein Anruf im Dekanat ordnet noch einmal den Zeitplan. Eine Karteikarte soll meine Richtschnur sein, aber dann schalte ich doch den Computer an und mache eine Gliederung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich 15 Minuten über meine Arbeit reden soll - und dann noch 15 Minuten Rede und Antwort stehen...

Auf dem Weg nach Münster wird mir eines klar: Ich habe nichts zu verlieren! Vermutlich bin ich derzeit der einzige Mensch auf diesem Globus, der sich mit Pfeilwunden so gut auskennt wie ich. Was also kann mir passieren? Gute Überlegung! Ich komme in Münster an und die Nerven liegen immer noch blank.

Vor dem Institut steht ein mir unbekannter Baum. Ich vertiefe mich in seinen Wuchs: Ein guter Gärtner hat ihn erzogen... Und doch: Die Krone ist licht, und ein Ast weist Pilzbefall auf. Der Baum, so schön er auch ist, stirbt. Im Flug ist die Zeit vergangen, und ich gehe völlig ruhig in das Institut.

Die Prüfung? Nach knapp einer Stunde bremsen mich die Prüfer: So genau hatten sie es gar nicht wissen wollen... ;-) Ich habe das "magna cum laude", das "sehr gut" der Vorzensur erfolgreich verteidigt! Ziemlich benommen verlasse ich das Institut und laufe eine Weile auf und ab...

Auf dem Heimweg Überlegungen, welche Schritte nun anliegen. Daheim dann ein Bier auf acht Jahre Arbeit... 

Und nun sitze ich hier seit gut vier Stunden an der Maschine, und gleich werde ich "uploaden". Mein Doktorvater hat heute in der Prüfung so nebenher fallen lassen, ich sei ein Perfektionist. Perfektionist? Ich habe 153 doc-Seiten eingegeben und 153 pdf-Seiten herausbekommen. Ich habe gesehen, dass das Lay-out durch den anderen Schrifttyp etwas verändert wurde, aber das ist mir jetzt so was von egal: Das Schätzchen geht 'raus - ich habe zu lange gewartet darauf!

15.07.04

Heureka! Im Briefkasten ein Schreiben vom Dekanat: "...ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Dissertation von der Fakultät als Promotionsleistung anerkannt wurde." Na, das liest man doch gern, ausgesprochen gern! Jetzt "nur" noch die Prüfung und ein paar Formalitäten... Na ja! Auch das werden wir noch schaffen, und bei aller Prüfungsangst: Es wird nicht gleich den Kopf kosten... ;-).

Wenig später endlich der seit Tagen erwartete Anruf vom Onkologen: Es wird ein langes Gespräch! Reduzieren wir es auf die Fakten: Die Chemotherapie ist nicht so effektiv wie erhofft, eine weitere Chemotherapie verbietet sich aber, weil das Knochenmark zu sehr deprimiert ist. Trotzdem zeigt der pathologische Klon unverändert Aktivität. Ein Therapieversuch mit Interferon soll unternommen werden, auch wenn dieses Vorgehen nicht konventionell ist. Vor diesem Versuch soll allerdings noch einmal Kontakt aufgenommen werden mit einigen anderen klugen Köpfen vom Fach, damit sie sich noch einmal dieselben über meinen Fall zerbrechen. Auch kommt das Einholen einer zweiten Meinung zur Sprache, gerade auch im Hinblick auf eine Hochdosistherapie.

Um ehrlich zu sein: Ich fühle mich gar nicht so krank, wie ich offensichtlich bin. Vielleicht ist es auch einfach der schleichende und indolente Verlauf der es mir erschwert, die Verschlechterung in dem Ausmaß wahrzunehmen, wie die Laborwerte und mein Arzt es sagen. Ich erledige den Haushalt, laufe mit den Hunden und sitze mir den Hintern platt am Schreibtisch. Gut: Ich habe ein wenig geschwächelt nach der Powerwoche mit dem Auftritt in Frankreich, der anschließenden Chemotherapie und dem abschließenden Bogenturnier, aber wer ginge da nicht in die Knie? Hey: Ich spiele noch die Bass, und in der Werkstatt kraose ich auch noch 'rum...

Wie geht 's weiter, konkret jetzt? In der nächsten Woche Laborkontrolle, und vor Breuberg gibt es noch einige Blutkonserven: Das macht einen rosigen Teint und hilft mir auf den Berg. Die Agenda muss kritisch durchgesehen werden: Was hat Priorität? "Tempus fugit!" sagt der Römer: Die Zeit flieht!

Und sonst? Ist doch klar, oder? Wem das Wasser bis zum Hals steht, der sollte den Kopf nicht hängen lassen!  ;-)

03.07.04

Gestern also endlich das Gespräch mit meinem Onkologen. Die Eröffnung wie beim Schach: Er erklärt, dass er mit dem bisherigen Verlauf der Chemotherapie nicht zufrieden ist. Prima: Da sind wir einer Meinung! Die Laborwerte werden durchgehechelt: Teilweise habe ich Verständnisprobleme und muss nachfragen - ich bin nun 12 Jahre aus dem Beruf... Die Werte geben nicht viel her... Wir diskutieren die Möglichkeiten und kommen schnell zur Hochdosistherapie, einem Synonym für die Knochenmarkstransplantation. Ist das Thema neu für mich? Nein! Bin ich mir der Risiken bewusst? Ja!

Ich erkläre, dass die Transplantation mittlerweile eine denkbare Option für mich sei: Die letzten 14 Tage haben doch einiges bewegt in mir. Fakt ist, dass die Krebszellen resistent sind gegen das derzeitige Regime: Auch das Endoxan, auf das ich so große Hoffnungen setzte, scheint an diesem Umstand nichts zu ändern. Betrachtet man die Geschwindigkeit, mit der sich die Zellen vom "Schemischen Schlag" erholen, so kann einem schwindelig werden: Das sind Rennpferde inzwischen, die ungeduldig in der chemischen Startbox warten: Öffnen wir die Klappe, ziehen sie ab...

"Gibt es einen 'Dritten Weg' zwischen der jetzigen Chemo und der Transplantation?" Meine Frage wird erstaunlich klar beantwortet: "Ja, es gibt verschiedene Ansätze... Man kann einen völlig anderen Weg versuchen..." 

Um es auf den Punkt zu bringen: Das Gespräch hat mir Hoffnung gemacht. Es scheint doch noch ein wenig hin bis zum Ende der Fahnenstange. Vielleicht gelingt es ja, durch eine weitere Chemotherapie wieder etwas Zeit zu schinden, ein Jahr, vielleicht zwei... Und wenn alle Stricke reißen gibt es immer noch die Chance der Hochdosistherapie - ich werde mich mit dem Gedanken anfreunden müssen. Andererseits: Als mein Großvater an einer Leukämie starb gab es nichts als Transfusionen von Mann zu Mann. Er starb in dem Stadium, das ich nun schon fünf Jahre hinter mir habe. Was habe ich in diesen fünf Jahren nicht alles erlebt und bewegt! Etwas Dankbarkeit und Demut ist durchaus angezeigt, nicht wahr?

Ich habe mir Ruhe verordnet in der vergangenen Woche: Einfach nur Kräfte sammeln, keine unnötige Bewegung. Ich erhole mich von den Strapazen der letzten Zeit. Monique ruft an: Sie ist irgendwo in Luxemburg mit der Band, auf dem Weg zu einem Auftritt in Reims. Ich habe die Probe am Mittwoch sausen lassen, und auch beim Auftritt in Reims morgen werde ich fehlen. Ich erweise der Band und mir einen schlechten Dienst, wenn ich auf dem letzten Loch pfeife und nur Ballast bin. Erst einmal wieder zu Kräften kommen, dann geht's schon weiter, irgendwie... Eine wichtige Erfahrung: Ich bin ersetzbar! In Reims wird jemand anders die Bass schlagen. Gut, dass ich ersetzbar bin - auch bitter, aber unter dem Strich gut! Ich habe die Bass optimal gestimmt und zwei frisch bezogene Beater liegen im Bus: Der Sound wird gut sein!

Ich kenne dieses Muster: Ich habe heute den Durchgang vom Haus zur Werkstatt aufgeräumt. Immer, wenn in mir Chaos herrscht, versuche ich, um mich Ordnung zu schaffen. Ich kenne dieses Muster... 

28.06.04

Gestern die Rheder Runde: Was für ein Tag! Pralles, dralles Leben! Zu sehen, mit welch kindlicher Freude ein Bonbon aus der Schale an der Anmeldung genommen wird (und klammheimlich das Zweite... ;-) - Es sind immer wieder die kleinen Dinge, die das Leben einen kurzen Augenblick lang zum Glühen bringen und lebenswert machen.

Was für ein Spaß, gemeinsam mit Tapsalteerie Musik zu machen! Völlig durchgeschwitzt danach - und glücklich! Was für ein Mordsspaß, nach der Siegerehrung die Sieger nass zu machen und selbst klitschnass nass zu werden dabei!

Es gibt zum Teufel tausend gute Gründe, am Leben zu bleiben. Bitter ist, dass der Körper am Ende eines solchen Tages einfach nicht mehr kann: Die Freunde arbeiten sehen und nicht helfen können, weil einfach keine Reserven mehr da sind - das ist bitter. Und doch: Da ist der Wille, wie ein Gaul vor dem Pflug einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Es war wohl einfach etwas viel: Am letzten Wochenende der Auftritt mit der Band in Frankreich, dann die Chemotherapie, dann die Rheder Runde: Das legt doch einen Bullen flach!

22.06.04

Gestern, nach der Waldarbeit, hatte ich das Gefühl, Bäume ausreißen zu können: Nach getaner Arbeit beim Bratkartoffelessen mit einem Bier in der Hand das Fett von den Lippen wischen - was für ein Leben! Grund für die Waldarbeit war mein Wunsch, vor der heute beginnenden Chemotherapie schnell noch einige Dinge abzuschließen, die Kraft erfordern: Unter der Therapie bin ich schon ein wenig müde.

Die Laborkontrolle heute war erneut unbefriedigend: Die Kombination von Fludarabin mit Endoxan hat keinen wesentlichen Fortschritt gebracht, die Leukos bleiben unverändert um 20.000. Vor der Chemo ein kräftiger Aderlass: Die Schwester entschuldigt sich fast für die umfangreiche Blutentnahme. Bei der anschließenden Chemo erstmals Probleme: Heftige Oberbauch- und Nierenschmerzen unter Endoxan, glücklicherweise nur kurzfristig. Mein Onkologe kommt auf mich zu und erkundigt sich nach meinem Befinden. Dann sagt er, wir müssten uns gelegentlich unterhalten... 

In solchen Situationen muss man weniger auf das Wort, mehr auf die Körpersprache achten: Er rümpft ganz leicht die Nase, während er spricht. Er hat also keine gute Nachricht für mich. Nun erklärt sich auch die umfangreiche Blutentnahme, zum ersten Mal übrigens ohne vorherige Absprache! Was wird er mir sagen wollen? Dass nun die Transplantation ansteht, vor der ich solche Angst habe? Vermutlich... Angst hin, Angst her: Wenn ich die Wahl habe zwischen einem hundertprozentigen Versagen der Chemotherapie und einem fünfzigprozentigen Versagen der Transplantation - dann bedeutet letzteres immerhin eine fünfzigprozentige Überlebenschance! Kann es da eine Diskussion geben? In einem Punkt aber bin ich mir unverändert sehr sicher: Ich möchte auf keinen Fall in einem Krankenhaus, sondern in meinem eigenen Bett sterben - nicht getrennt von denjenigen, die ich liebe. Eine Patientenverfügung steht also an.

Abends treibt es mich in den Garten. Ist "Unkraut jäten" nicht eine Metapher für die Chemotherapie? Und ist es nicht erstaunlich, dass ich in Krisensituationen immer wieder die Arbeit mit der Erde suche? Diese Arbeit, der Kontakt mit Mutter Erde, beruhigt mich ungemein. Eigentlich ist alles wirklich sehr einfach: Du kommst aus dem Nichts, und du gehst ins Nichts. Was verlierst du? Nichts!

31.05.04

Am Sonntag nach über einem Jahr Pause wieder den Bogen gespannt: Gut, wirklich sehr gut! Ankes 35-Pfund Robinienbogen zieht sich butterweich und hat doch einen ordentlichen Päng. Sieben Stationen auf dem Parcours mit viel Vergnügen geschossen: Die Mitte ist noch da, nur an der Entfernung muss ich noch arbeiten... ;-) Sehr gute Atmosphäre in der Gruppe: Ruhig, sachlich, gelöst.

Die Anderen absolvieren den kompletten Parcours, ich bin müde, entspannt, döse ein wenig. Dann sammle ich Feuerholz und mache ein winziges Indianerfeuer. Ich sehe in die Flammen und lasse den Gedanken freien Lauf, genieße die Stille und frage mich, wie ich dies und das wohl hintereinander bekommen soll. Ich füttere das Feuer mit kleinen Zweigen, die sich in Rauch auflösen - wie meine Sorgen. Es ist, wie es ist. Dies und das - nun, auch dies und das wird sich finden. Es ist, wie es ist - und es ist gut so.

Sieben Ziele waren genau das richtige Maß: Am Montag spüre ich meine Schultern, aber sie schmerzen nicht. Ich komme mir vor wie King Louis: Sieben Ziele mit einem 35-Pfünder nach einem Jahr Pause! Zur Feier des Tages ziehe ich mein Superman-T-Shirt an.

26.05.04

Der erste Tag der neuen Chemo war weniger schlimm, als ich es befürchtet hatte. Gut, es hat sich endlos gezogen - wesentlich länger hätte es wirklich nicht dauern dürfen. Die Welt war sehr bunt danach: Die Farben leuchteten, was für mich als fast Farbenblinden eine interessante Erfahrung war. Ich war recht froh, wieder daheim zu sein und mich hinlegen zu können. Am Abend habe ich aber doch den Dreh aus dem Bett gekriegt, und gegen 21:00 schaltet der Körper auf einmal wieder auf Normalbetrieb, als wäre nichts gewesen. - Heute morgen das Gefühl, als hätte mich der Münsteraner Hammerverein erwischt: Böse Knochenschmerzen und eine Muskulatur, als hätte ich einen Marathonlauf absolviert. Aber nach der Runde mit den Hunden war alles wieder in Ordnung. Die Chemo dauerte heute gleichlang wie gestern, aber subjektiv ging sie viel schneller vorbei. Ich verweigerte mir die Bequemlichkeit des Bettes und habe lieber ein bisschen geschmökert. Danach die Küche aufgeräumt - die im Augenblick von Anke wieder verwüstet wird...

Hat sich etwas verändert? Ja! Beim Rasieren funkelten mich heute wieder zwei lustige Augen an. Ich war recht niedergeschlagen in den letzten Wochen, wurde das Gefühl nicht los, weggespült zu werden. In diesem Gefühl habe ich mich abgekapselt - wie immer, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Gespräche in Peine waren vielleicht auch darum zu kurz, weil ich mehr nicht zugelassen habe, weil ich mehr nicht zulassen konnte.

Abkapselung bedeutet Verhärtung. Nach meiner Theorie ist gerade Härte Gift für einen Krebspatienten. Ich habe daher heute eine neue Seite auf meiner Seite aufgeschlagen, und die widmet sich ausschließlich dem Gegengift: Dem Humor (=Feuchtigkeit ;-). Ich habe ein Kleinod des Sprachwitzes in den Tiefen des Internet ausgegraben und umgehend geklaut: Der geistige Horizont des amtierenden US-Präsidenten wird hier ausgelotet, und über wen könnte man wohl trefflicher lachen als über diesen tumben Toren namens George W. Bush?

24.05.04

Heute habe ich die Chemotherapie abgebrochen - nach reiflicher Überlegung: So, wie es derzeit läuft, macht es einfach keinen Sinn. Am Ende einer Chemo-Woche machen die Leukos einen kleinen, eher angedeuteten Hofknicks, um 14 Tage später - zu Beginn der nächsten Chemo - frisch ausgeruht und in voller Mannschaftsstärke wieder anzutreten: Ready to rumble... Dieses Spiel fortzusetzen, und es ist ein Spiel in dieser Form, würde mein Leben auf einen komischen Rhythmus reduzieren: Eine Woche Chemo, eine Woche Erholung, eine Woche Leben. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, die Chemotherapie zum Lebensinhalt zu machen. Überhaupt: Ich sehe es nicht ein, dass einige durchgeknallte Krebszellen die Regie über mein Leben übernehmen sollen. Ich bin mein Käpten!

Morgen beginnt eine neue Offensive: Neu Chemikalien, aggressiver als bisher. Diese Kombination ist diesen Dummdödeln unbekannt - mir allerdings auch. Der Unterschied: Ich kann denken und darum verstehen, warum diese Hölle notwendig ist - wenn es denn die Hölle wird, was nicht gesagt ist. Ich kann meinem Onkologen vertrauen: Er wird - falls erforderlich - die Last für mich reduzieren. Ich kann hoffen, und die Hoffnung kann bekanntlich Berge versetzen. Halt: Das war der Glaube! OK, da haben wir Waffengleichheit: Glauben kann ich nicht... Aber ich kann lieben, und damit habe ich diesen mickerigen Krebszellen eine Menge voraus: Sie denken nicht, verstehen nicht, hoffen und lieben nicht. Sie sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen - so dämlich kann man doch gar nicht sein, oder? Eigentlich haben sie mächtig schlechte Karten. Wollen wir hoffen, dass diese funktions- und damit überflüssigen Dummies ordentlich was auf die Nuss bekommen und ich danach noch halbwegs geradeaus gucken kann. Schade allerdings, dass man sich nicht waschen kann, ohne nass zu werden... ;-)

Ein Mensch, der es gut meinte mit mir, hat auf meiner Gästetoilette folgenden Spruch hinterlassen: 
                                                        "Wenn alle Stricke reißen, häng' wer uns auf!" 
In diesem Sinne!

PS: Gerade ging mir noch einmal das Bild von den Krebszellen durch den Sinn, die an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen: Sind wir vielleicht für Mutter Erde das, was die Leukos für mich sind?

23.05.04

Zurück zu diesem Buch, von dem ich vor einigen Tagen berichtete: "Basiswissen Drechseln". Inzwischen habe ich es orientierend überflogen und dabei ein wunderbares Beispiel von dem Humor gefunden, den ich so liebe. Der Witz besteht aus zwei Teilen - dem Bild und dem zugehörigen Text: 

"Diese mit einem Stopfen versehene Schale wirft die bisher unbeantwortet gebliebene Frage nach dem Sinn eines solchen Stopfens auf."

Genial! Einfach genial! ;-)

 

17.05.04

Das Tagebuch wurde mir zu umfangreich: Bei jeder Änderung die ganze Datei neu laden? Ich habe es nun nach Jahrgängen geteilt.

16.05.04

Ich habe ein neues Buch angefangen: "Basiswissen Drechseln" von Mike Darlow. Gleich am Anfang, im Abschnitt "Drechselbänke und Drechselbankzubehör" folgender Satz: 

"Zur Grundausstattung ... gehören ... 4. ein Bohrmaschinenfutter auf Kegeldorn mit dem gleichen Morsekonus wie Ihre Reitstockpinole." 

Alles klar? Das kann ja heiter werden!

12.05.04

Das Highland Gathering in Peine, das nun leider hinter mir liegt, war wie ein warmer Frühlingsregen, der alles zum Grünen bringt: Im Park eine angenehme, entspannte, kommunikative Atmosphäre; viele altbekannte Gesichter, herzliche Begrüßungen nach der überlangen Winterpause und gute Gespräche, alle - wie immer - viel zu kurz. Gute Musik, keine Frage - auch hiervon zu wenig: Man kann nicht überall gleichzeitig sein, und Musik erklang aus jeder Ecke...

Kilt oder Hose - das ist die Frage am Samstag morgen. Ich entscheide mich für den Kilt und werde es später bereuen... Besorgte Fragen nach meiner Gesundheit, auch mit dem Verweis darauf, dass sich so lange nichts getan hat auf der Homepage. Liebe Leute: Eine Chemo ist kein Pappenstiel! Neben all dem Zeitverlust durch das Herumhängen im Krankenhaus macht sie auch müde; und dann ist da noch der Haushalt: Auch ich habe meine Prioritäten... ;-) - Nach der Massed Band auf dem Marktplatz und dem Rückmarsch in den Park stelle ich mit Erschrecken fest, dass meine Knie blitzeblau sind. Auch muss ich um heißes Wasser bitten, um meine Zehen aufzutauen: Diese Kryoglobuline sind wirklich eine Crux...

Prüfungsangst? Die Competition läuft völlig routiniert ab, wie eine Probe. Ich kenne unser Level, weiß, wie ich meinen Beitrag leisten kann. Wir alle sind bei der Sache - und gehen es doch locker an... Die Beurteilung durch die Judges wird sehr konstruktiv und ermutigend ausfallen. In der Band endlich der Geist, den ich mir immer wünschte: Niemand ist am Rang interessiert, den erfahren wir erst Tage später. Das Interesse ist fokussiert auf die Punkte, die verbessert werden können... Bass und Tenor erhalten sehr positive Rückmeldung, selbst um unsere Gesundheit ist der Richter bemüht: "Watch your weight!" OK, ich werde versuchen, mehr zu essen, und Monique wird tüchtig schwimmen... ;-)

Die Massed Band zum Abschluss, die Preisverleihung. Es zieht und zieht sich wie Kaugummi, und Helmut spielt "Stadt, Land, Fluss" mit uns. Ich hasse Schwätzerei! Wie im letzten Jahr bitte ich ihn nach der Preisvergabe, sich in Zukunft kürzer zu fassen: Es kommt nicht an bei ihm, ich dringe nicht durch: Er müsse es doch spannend machen... Zwei Stunden lang?! Im nächsten Jahr werde ich mir was zum Lesen mitbringen...

Spät am Abend folge ich einem spontanen Impuls und besuche den Whisky-Stand. Ich erkläre frank und frei, dass ich keine Ahnung von Whisky habe und lieber einen guten, alten Rum bevorzuge. Aber es gäbe tatsächlich einen Whisky, der mir schmeckte: Der Talisker. Malt Harry überlegt ein wenig, dann bietet er mir ein Kostpröbchen an: Was für ein Tropfen! Das ist "uisge beatha" - Wasser des Lebens! Ich koste und koste, und während ich koste wird mir klar, das dies ein teurer Abend wird... - Später besuche ich Donald und seine Mitstreiter bei Kilts & More: Sie sind stehend K.O. Gemeinsam prüfen wir diesen einmaligen Whisky - wir alle waren 30 Jahre jünger, als er gebrannt wurde. Eine sehr schöne Feierabendstimmung breitet sich aus: Es ist gut, mit guten Leuten Gutes zu teilen...

Später hocken wir beim Bier zusammen, in der Turnhalle, in der wir untergebracht sind. Langsam anschwellend entwickle ich schließlich unerträgliche Schmerzen im rechten Knie: Ich kann mich nicht erinnern, wann mir zuletzt ein Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Vor kurzem hatte ich mir das Knie geprellt, aber das hatte ich eigentlich längst vergessen. Eine Tablette und ein wenig Bewegung lösen das Problem schnell. Aber am nächsten Tag, auf der Heimfahrt, schaukelt sich die Sache wieder hoch: Erneut diese unerträglichen Schmerzen, die wie ein Spuk verschwinden. - Heute, einige Tage später und beschwerdefrei seitdem, kann ich nur vermuten, dass die vorübergehende Durchblutungsstörung Ursache war: Ein kleiner Reizerguss im rechten Knie (Bursa praepatellaris) hat sich inzwischen zurückgebildet. - In Zukunft werde ich mich im Zweifelsfalle eher für die Hose entscheiden, auch auf die Gefahr hin, dann mit Jürgen Uhrig verwechselt zu werden: Es gibt Schlimmeres... ;-)

Ach ja, eines zum Schluss: Ich habe nur zwei Drums gestimmt an diesem Wochenende, aber das mit viel Spaß, vor allem angesichts der Begeisterung der Drummer über den resultierenden Sound. Überhaupt:  Die Bass Drums machen sich - fast durchgehend habe ich einen sehr ordentlichen Sound gehört. Wunderbar - es geht voran! Eine Sache allerdings hat mich verwundert: Eine Midsection war völlig aus der Reihe. Die Felle der Bass schlabberten nur so vor sich hin, irgendeine Stimmung war nicht vorhanden. Geschlagen wurde die Bass mit diesen großen Paddeln. Der Mann war wirklich gut, keine Frage, aber heraus kam - Luft! Ganz ehrlich: Mit so einer Bass würde ich mich nicht auf die Straße trauen! Die beiden Tenors waren ebenfalls nicht gestimmt, zudem lagen sie in ihrer Missstimmung meilenweit auseinander... Als ich im letzten Jahr unsere Tenors absichtlich unterschiedlich stimmte (Bb2 & D2) ernteten wir Kritik und Punkteabzug wegen dieser "Missstimmung". Die Band mit der schlecht gestimmten Midsection machte aber trotz dieser Tatsache den ersten Platz in Grad 2. Solche Entscheidungen hinterlassen ein "Geschmäckle", wie der Schwabe sagen würde. Sicherlich: Pipes und Sides waren hervorragend, aber kann tatsächlich eine Band mit derartig grauseliger Midsection den Ersten machen im Grad 2? - Na ja: "Quot licet Iovi non licet bovi!" sagte der olle Römer: "Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht gestattet." Ich kann nur hoffen, dass kein Bass oder Tenor Drummer sich am Tuning dieser Band ein Vorbild nimmt: Dass wäre ein Rückschritt hinter das inzwischen erreichte Level.

06.05.04

Dinge drängen zum Abschluss: Diese herrliche Eichenbohle, grau und verwittert im hintersten Winkel eines Sägewerks gefunden, strahlt nun meinen Besuchern knackig und frisch entgegen. Wir hatten eine gute Zeit zusammen: Drei Wochen haben wir versucht, uns einander anzunähern, und schließlich ist es wohl geglückt.

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Glück auch in Sachen Doktorarbeit: Die Gutachter haben sich schließlich darauf geeinigt, die Arbeit als "Sehr gut" zu bewerten. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber ich fühle mich gebauchpinselt. Nun also noch das Rigorosum: Vielleicht probiere ich einfach mal, meine Prüfungsangst beiseite zu schieben...

Morgen endlich der Aufbruch nach Peine: Die Vorbereitung war für mich nicht ganz befriedigend... Es ist hart, eine Linie zu finden, hart, sich von Träumen zu trennen. Hart war es, in der Band die Idee der Avantgarde durchzusetzen, die mit ihrer Leistung die Band inspiriert. Ich wäre froh, wenn wir in dieser Besetzung den vorletzten Platz belegen würden: Wir haben so gearbeitet, der Fortschritt muss doch belegbar sein!

Die Gesundheit: Sie will nicht so, wie ich wohl will. Seit Monaten nun die Chemotherapie, aber es ist wie die Andernacher Springprozession: Zwei Schritte vor, einer zurück. Nach anfänglich gutem Ansprechen "undulieren" (so der Onkologe) die Werte nun um 20.000. Die Leukos wollen und wollen nicht in den Normbereich. Vielleicht denke ich mal wieder zuviel, aber ich denke, dass das nicht so läuft, wie es laufen sollte... Es ist, als seien die Krebszellen resistent, wie Bakterien, die gegen ein Antibiotikum eine Resistenz entwickelt haben. Es hilft nicht richtig, was helfen soll: Es hält lediglich im Schach... Ich fühle mich nicht übel - man gewöhnt sich erstaunlich schnell an Anämie und andere Sachen - aber da ist doch eine Sorge, die penetrant anklopft und Aufmerksamkeit fordert...

Zurück zum Handwerk: Zwei Projekte liegen vor mir. Ein großer Totempfahl für den Wald und eine "kleine" Skulptur. Die Skulptur habe ich seit Jahren im Kopf: Mit gut zwei Metern wird sie eine gute Übung sein für den Pfahl, der ca. fünf Meter Höhe haben soll. Den Pfahl mache ich allerdings nicht alleine: Teamwork, in guter, alter Tradition. Eine neue Erfahrung: Mit drei Leuten ein halbes Jahr schnitzen...

05.04.04

Gegen Mittag klingelte es heute am Gartentor: Der Postbote wartete mit einem Einschreiben. Natürlich fallen einem bei solcher Gelegenheit alle Sünden ein, die man möglicherweise begangen habe könnte, aber dieser Brief war wirklich sehr komisch:

Als Absender gab sich auf dem über und über beklebten und bestempelten Kuvert die Firma "ESKIMO Fashion Knitwear" aus Sri Lanka (ehem. Ceylon) zu erkennen, was mir auf den ersten Blick aber auch überhaupt gar nichts sagte. Aber dann begann es zu dämmern: Da stand etwas von "ear muffs"...

Vor einigen Wochen gab mir ein befreundeter Piper den Tipp, die Ohrenwärmer einer schwedischen Firma zu versuchen:
"Du hast doch immer so kalte blaue Öhrchen? Es gibt witzige Ohrwärmer, die man über die Löffel stülpt und in schwarz zum Glengarry nicht so auffallen, ich hab es ausprobiert. Sie heißen EAR BAG und kommen aus Schweden bei www.earbags.com zu beziehen oder im Bergsteigergeschäft. So bleiben auch die kältesten Löffel stilvoll warm !!!"

Ich folgte dem Rat und besuchte die Homepage: Die besagten Ohrenwärmer wurden hier in klirrenden Winterlandschaften vorgestellt und sahen sehr ordentlich aus. Über das Internet bestellte ich einen Satz in Schweden, Produktion und Versand sind aber offensichtlich nach Sri Lanka ausgelagert. Sicherlich haben die Leute in Sri Lanka von Eis und Frost soviel Ahnung wie eine Kuh vom Seiltanzen, aber nähen können sie, in der Tat, und das zu nicht zu unterbietenden Preisen: Globalisierung...

Immerhin habe ich jetzt warme Ohren und zwei Briefmarken aus Sri Lanka mit Trommlern drauf: Auch nicht schlecht. ;-)

26.03.04

Der Freitag ist ein zwiespältiger Tag, zumindest, wenn es der letzte Tag der Chemo-Woche ist. Der Montag ist locker: Nur die üblichen Zweifel und Ängste. Der Dienstag ist dann schon Routine. Am Mittwoch geht es an die Substanz - und doch will abends bei der Probe die Bass gespielt werden. Der Donnerstag ist einfach nur bitter. Der Freitag ist zwiespältig, weil einerseits das Ende der Chemo naht, andererseits aber auch das der Belastbarkeit.

Auf dem Weg zum Krankenhaus kommt mir die letzte Zeile von Monty Python's "Allways look to the bright side of life" in den Sinn: "Du kommst aus dem Nichts und du gehst zurück ins Nichts. Was hast du verloren? Nichts!" Ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber während ich fahre und mir die Sonne in die Augen sticht wird mir wieder klar, wie wahr dieser Gedanke ist. Und mir wird klar, wie wertvoll und kostbar jeder Augenblick zwischen Geburt und Tod ist. Carpe diem! - Nutze den Tag!

"Tune Search" ist inzwischen unbestrittene Nummer Eins der Seite. Doc Henri ist es gelungen, den Schritt zur Teamwork zu vollziehen: Neben den festen Mitarbeitern Henny Barnhoorn und Coline Gerritsen hat soeben ein gewisser John irgendwo aus den USA ein Buch beigesteuert. Innerhalb eines Monats sprang die Zahl der Tunes von gut 3000 auf gut 5000. Vielversprechend!

Nach langer Pause wieder ein Beitrag zum Holbaek-Projekt: Doc Sterni hat einen Text übersetzt, in dem es um Dinge geht, die vor einer Competition bedacht werden sollten. Er will weitere Beiträge liefern: Vielversprechend! 

Nachmittags bringt der Briefträger ein Paket: Moniques Hosbilt Tenor. Als ich Monique telefonisch über diesen Umstand informiere ist die - vorsichtig formuliert - freudig erregt...

Nachmittags ein langes Gespräch mit Maik: Es geht um die BassMafia und ein vielversprechendes Projekt...

Dann knubbelt es sich: Volker läuft ein, wenig später Monique und Henri: Sie wollen gemeinsam nach Karlsruhe zur BAG-Competition. Zeitgleich legt Anke eine kurze Zwischenlandung hin: Von der Arbeit kommend startet sie durch zur Vorstandssitzung der Feldbogenschützen. Der Knoten löst sich: Endlich sind alle unterwegs - und ich kann mich in Ruhe meiner Eichenbohle widmen.

Der Freitag ist ein zwiespältiger Tag: Man muss halt versuchen, das Beste daraus zu machen... ;-)

15.03.04

Der Mensch ist ein spaßiges Tier. Natürlich ist man unmittelbar nach einer Chemotherapie ein wenig angeschlagen: Fünf Blutspenden in sieben Tagen - ein Hb-Abfall um ein Drittel dürfte Pi mal Daumen in diese Richtung gehen - sind schließlich kein Pappenstiel. Die Beine sind schwer, man schnappt nach Luft wie ein Karpfen auf dem Trockenen, wird zwangsläufig langsam. Ist das spaßig? Nein! Spaßig ist, dass der Mensch solche natürlichen Zusammenhänge kompliziert.

Der Mensch ist ein belastbares Tier: Am Mittwoch bei der Probe fiel es noch schwer, auf dem Heimweg war mir speiübel vor Erschöpfung. Am Samstag fragte ich mich nachmittags ernsthaft, wie ich wohl abends beim Auftritt die Trommel geschultert bekommen sollte. Und kaum war es soweit, ging alles wie von selbst: Auf einmal war die Drum federleicht...

Der Mensch ist ein denkendes Tier. All diese überflüssigen Ängste, die uns nur um unser eigentliches Potential bringen, diese dummen Selbstzweifel, diese ängstliche Selbstbeobachtung - immer auf der Suche nach einem Schwachpunkt. Auch dieses typisch deutsche Selbstmitleid, das aus jeder Mücke einen Elefanten macht... Sogyal Rinpoche, ein tibetischer Mönch, hat in einem Vortrag, ich glaube, das war 1992 auf dem buddhistischen Kongress in Berlin, die Sache sehr schön auf den Punkt gebracht: "Wir Menschen denken zuviel! Nehmt euch ein Beispiel an der Kuh: Sie frisst, schläft und scheißt..." Natürlich haben wir alle schallend gelacht - weil er ja recht hat!

Ich bin müde, registriere meine Müdigkeit und mache mir Sorgen - statt mir etwas Ruhe zu gönnen. Ich beobachte meine Atemnot und mache mir Sorgen darüber - statt mir etwas Ruhe zu gönnen. Ich sollte besser fressen, schlafen und scheißen! Beschäftige ich mich damit, mich selbst zu beobachten, wird Energie in Form von "Sorgen machen" gebunden. Werde ich gefordert, z.B. im Rahmen eines Auftrittes, habe ich keine Zeit für Selbstbeobachtung und Selbstzweifel: Da ist der tippende Fuß des Pipe Majors, der bedient werden will, die Band, die den Beat braucht. Und auf einmal bin ich in der Realität, im Augenblick:  Das Leck ist gestopft, die volle Energie geht in die Drum, in die Band. Kein Zweifel, kein Energieverlust... . Ich bin versucht, Sogyal Rinpoches Satz zu erweitern: Fressen, schlafen, scheißen - und trommeln... ;-)

In der Werkstatt eine riesige, bildschöne, völlig verwachsene Eichenbohle: 210 x 50 x 10. Der Splint ist schon abgetragen, ein armdicker Ast ist ausgefault und muss noch nachgearbeitet werden. Sich Hieb für Hieb, Schritt für Schritt einer Idee annähern - das ist Realität, das ist "Hier und Jetzt".

09.03.04

In der "Neu!"-Datei klafft eine hübsche Lücke: Seit dem 15. Februar hat sich auf der Homepage nicht viel getan, zumindest in meinem Teil. Doc Henri & Co hingegen ackern fleißig an der Tune Search Maschine und machen gute Fortschritte. 

Ich habe gerade wieder einen Chemo-Zyklus hinter mir und und stelle mit Erstaunen fest, dass - von meiner Umgebung völlig unbemerkt - eine gewaltige tektonische Verwerfung das Westmünsterland angehoben hat: Ich schätze, Suderwick liegt inzwischen auf ca. 4500 Meter Höhe. Die Luft wird langsam mächtig dünn hier... Die Leukos haben tüchtig eins auf den Hut bekommen, und die Thrombos haben sich ordentlich erholt. Aber der Hb geht nun in die Knie, und teilweise muss ich schon ein wenig nach Luft schnappen. Und es macht schlapp...

Vielleicht ist es aber auch bloß der Gedanke, nach so langer Zeit die Diss endlich abgeschlossen zu haben, der mich die Dinge im Augenblick eine wenig ruhiger, entspannter angehen lässt.

Ruhiger? Entspannter? Der Umbau der Garage zur Werkstatt macht Fortschritte. In der "alten" Werkstatt entsteht zur Zeit eine Trommel. Im Arbeitszimmer sieht es immer noch aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Doch, doch: Das Diss-Regal war zwischendurch leer... Ich sollte vielleicht Bauer Heinrich, meinen Nachbarn, fragen, ob er mir mal beim Ausmisten hilft: Er hat da mehr Erfahrung. Ich scanne gerade die Sgian Dubh-Bilder ein: Den Artikel will ich schon seit einem Jahr veröffentlichen. Und ebenfalls auf Abschluss wartet ein Artikel zum Thema "Burns Night".

Ich sollte hier wirklich nicht so dumm rumschwätzen und lieber zusehen, dass ich in die Pötte komme...

27.02.04

Hinter mir liegen einige Tage voller Kuddelmuddel: Wieder und wieder musste die Doktorarbeit formatiert werden bis endlich alles passte. Der ursprüngliche Plan, die Arbeit direkt aus der Datei in den Kopierer zu geben, musste fallen gelassen werden: Die  Formatierung war nur auf einem Computer stabil! Gut, dass unverändert auf die Kopierer aus dem Hause Xerox Verlass ist. Ich frage mich aber kopfschüttelnd, wie es Bill Gates zu seinem unermesslichen Reichtum gebracht hat: An der Qualität seiner Produkte kann es nicht liegen... 

Der Buchbinder leistete quasi über Nacht hervorragende Arbeit (...gutes, altes Handwerk!). Gestern, in letzter Minute, mussten dann noch einmal alle 260 Farbfotos abgezogen werden. Während Anke sie in kleine Fotoalben einsortierte quälte ich mich mit einem Anachronismus ab: Das Dekanat verlangt zusätzlich zu den sechs getippten Lebensläufen einen handschriftlichen. Meine "Klaue" ist absolut unlesbar: Gut, sie sollen bekommen, was sie wollen... ;-)

Heute dann endlich die Fahrt nach Münster. Im Dekanat der Medizinischen Fakultät werden die zur Begutachtung erforderlichen Exemplare von einer freundlichen jungen Dame entgegengenommen: Für sie ist es Routine... "Den handschriftlichen Lebenslauf liest sowieso niemand," sagt sie. "Ich verstehe gar nicht, wieso der immer noch verlangt wird." Danach noch Abwicklung von etwas Papierkrieg - und ich stehe wieder in der frischen Winterluft: Die Schneefee hat Westfalen verzaubert. 

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Acht Jahre Arbeit liegen hinter mir. Das Promotionsverfahren wird sich nun ungefähr sechs Monate ziehen. "Tu, was du kannst, und geschehe damit, was will!" Diesen Rat bekam ich von einer sehr guten Freundin, als ich mich damals an die Arbeit machte. 

Morgen wird ein Regal frei...

18.02.04

Was für ein Tag! Der Frühling kommt mit Macht: Die Vögel singen, ein Karnickelpärchen spielt Liebesspiele vor dem Fenster meines Arbeitszimmers und der Maulwurf, der meinen Garten verwüstet, scheint noch mal einen Zahn zuzulegen. Man kann das Gras fast wachsen sehen, die Bäume ziehen Saft und die Bauern scheißen die Felder zu: Frische Landluft steigt mir in die Nase. Das Knie wird warm am Schreibtisch und ich wundere mich schon, mit welcher Leichtigkeit Kasperle diesmal seinen Kopf auf mein Bein legt: Es ist nicht der Hund, es ist die Sonne...

Früh morgens zieht es mich mit Macht in den Garten - nur schnell die Emails bearbeiten. Natürlich bleibt es nicht dabei...  ;-)

Stunden später: Nach dem Spaziergang mit den Hunden zum Krankenhaus. Das Blutbild ist sehr ermutigend: Die Leukos wurden durch die Chemo halbiert, die Thrombos konnten sich verdoppeln und machen nun Klimmzüge am unteren Normwert. Im Labor gibt es die Becker-Faust... ;-) Es ist wohl schwer zu vermitteln, welche Gefühle in solcher Situation aufblühen...

Zur Belohnung nach dem Einkauf eine große Pfanne Brat-s-kartoffeln  gemacht - das "s" in der Mitte steht für die Extraportion Speck. Habe ich eigentlich erwähnt, dass ich neuerdings wieder Appetit habe? Ich habe einiges aufzuholen...

Auf dem Anrufbeantworter ein kurze Mitteilung: Die Doktorarbeit sei fertig formatiert. Telefonisch verabreden wir gleich für morgen früh eine letzte Korrektur, und dann geht es ab zum Drucken und Binden. Ich kann nur jedem Doktoranden empfehlen: Sieh zu, die Sache in kürzester Zeit durchzuziehen! Ich habe acht Jahre gebraucht, und das sind mehrere Windows- und Office-Generationen. Das Resultat ist ein Formatierungschaos, das nur noch von Fachleuten entwirrt werden kann.

Nachmittags heftige Knochenschmerzen. Es hilft sich vorzustellen, dass dort gerade eine Schlacht geschlagen wird. Die Laborbefunde stimmen mich positiv bezüglich des Ausgangs - so ist es besser zu ertragen. In der Apotheke kaufe ich ein völlig überteuertes Schmerzmittel mit Super-Turbo-Galenik: Mir ist nur wichtig, dass es eine Kapsel ist, die ich 'runter bekomme. Was hierzulande an Beutelschneiderei nicht alles erlaubt ist... Im Mittelalter wäre man gerädert worden dafür!

Mit Ach und Krach die Brocken zusammengeklaubt und verspätet auf der Probe angekommen. Henri stellt mir seine neuesten Überlegungen für die Weiterentwicklung vor "Tune Search" vor. Wir diskutieren, entwickeln, planen: Es ist ein Ping-Pong. "Tune Search" ist über Nacht zur Nummer 1 auf der Homepage geworden bezüglich Aufruf und Download - Es war wohl Bedarf für solch eine Datenbank da. Und sie wächst: Ganze Buchindizes werden inzwischen von Gleichgesinnten hochgeladen.

Die Side Drummer bitten mich mitzuspielen: Ein neues Score - 9/8. Wir überziehen: Keine Pause. Sofort geht es in die Full Band, und heute will Hans Konditionstraining machen: Ein Set nach dem anderen, getrennt nur durch Rolls. Die armen Piper müssen fast eine Stunde durchblasen. Temposchwankungen bei einem 6/8: Die Band marschiert im Kreis. Ich bin gut warm, es macht richtig Spaß. Monique weis mich auf meine blutverschmierte Drum hin: Ich bin wohl mit der Hand am Kesselrand aufgeschlagen. Die Trommel wird abgewaschen, um die Beater nicht zu versauen - und weiter geht's.

Nach der Probe will ich meine Bass wegpacken: Simon, der Knirps, der mir beim Auspacken der Drum geholfen hat, hat die Probe genutzt, um mein BassCase zu verschönern: Ein wirklich kreatives Bürschchen! ;-) ...und eine gute Uhrzeit: Nicht Fünf vor Zwölf! ;-)

Ich verlasse den Pub heiter gelöst und wohlig müde. Gut: Die Müdigkeit ist nicht auf die Probe allein zurückzuführen, aber es hat  viel Spaß gemacht, und positive Impulse schwingen nach.

Und jetzt sitze ich hier und bin ein wenig unzufrieden über die Tatsache, dass ich dem ersten Impuls, in den Garten zu gehen, nicht nachgegeben habe. Soll ich mich darüber ärgern? Ja und nein: Die Gartenarbeit läuft nicht weg, und einiges ist schon getan. Andererseits beobachte ich, das die Homepage sehr viel Zeit verlangt. Ich halte es für richtig und wichtig, sich für ein Projekt voll zu engagieren, aber kein Projekt darf die Lebensmitte verschieben.

Mein bisheriger Arbeitstag - morgens Arbeiten, nachmittags Haushalt,  und abends nochmals arbeiten - sollte wohl überdacht werden. Mir fehlt Bewegung...

Es ist Frühling: Der Körper verlangt sein Recht... ;-)

 

15.02.04

Was für eine Woche! Ich hatte mir so fest vorgenommen, als tapferer Ritter in die Chemotherapie zu ziehen, hatte meine Rüstung so sorgfältig angelegt - nur um zu erfahren, das sich Geschichte nicht wiederholt, sich Ereignisse nicht inszenieren lassen. Johnnie Cope löst diesmal keine Wut aus: Zu drückend ist die Sorge angesichts der dramatischen Blutbildveränderung. Der Besuch beim moribunden Freund vor der Chemo lenkt immerhin von meinen Sorgen ab: Lothars Situation springt in den Vordergrund. Dann sein Tod, bis heute unbegreiflich...

Und Tag für Tag ins Krankenhaus fahren und nicht wissen, ob die Chemotherapie fortgesetzt werden kann: Der Krebs-Klon hat sich breit gemacht und diesmal die Thrombozyten verdrängt. Die Blutplättchen sind für meine Blutgerinnung zuständig, und Ziel der Chemo ist es ja nicht, dass ich aus allen Knopflöchern blute. Anfangs gehen neben den Lymphos auch die Thrombos in die Knie, aber Mitte der Woche stabilisiert sich die Situation, die Thrombos erholen sich, wir können weitermachen. Sorge macht mir nun nur noch die hohe LDH - prognostisch ungünstig...

Am Freitag morgen zum Blutbild ins Krankenhaus: Ja, die Chemo kann weiterlaufen. Danach zum Friedhof: Lothar wird beerdigt. Über die Woche habe ich zunehmend Knochenschmerzen entwickelt, eine Nebenwirkung der Chemo. Während der Zeremonie ärgere ich mich über den Pastor: Erzählt da was aus dem Prediger, es gebe Zeiten zu lieben und zu hassen, Zeiten für den Krieg... Mann! Lothar war Pazifist! Was erzählst du da für einen Mist? Und ich ärgere mich über meine Knochen, die mich ärgern, als ob sie's darauf abgesehen hätten. Vielleicht sollte ich doch in Zukunft einmal um einen Sitzplatz bitten...

Nach der Beerdigung ins Auto, beim Einsteigen fast zerbrochen. Die Schmerzen sind nur noch mit Mühe zu ertragen. Im Krankenhaus an den Tropf angeschlossen - und eingeschlafen: Ich bin K.o. Mit Glück zur rechten Zeit wach: Der Kollege ist da. Gegen die Knochenschmerzen empfiehlt er ein Präparat, das ich noch zuhause habe. Dann, die hohe LDH im Hinterkopf, mein Angriff: Ich wolle meine Garage zur Werkstatt umbauen, was er davon halte... Er ermutigt mich! Und die LDH? Die werde wohl mit sinkender Zellzahl fallen... Erleichterung...

Zuhause eine Tablette eingeworfen, auf dem Zahnfleisch ins Bett gekrochen - um zwei Stunden später quietschfidel  als Phoenix aus der Asche wieder aufzustehen... Abends Besuch von Freunden: Es ist mein Geburtstag und ich bin froh, nicht allein zu sein...

Am Samstag geht es wieder mit Lust und Macht an die Arbeit: Henri's Datenbank wird eingebunden, Monique näht ein Schaf und ich schreibe einen Artikel für die Homepage darüber. Am Sonntag mit Kasperle in den Wald, danach Gartenarbeit bis zur Dämmerung. Und dann krame ich ein Rezept heraus und veröffentliche es: Monatelang habe ich kaum noch essen können, und nun habe ich Kohldampf für zwei! Da muss was drin gewesen sein in der Chemo... ;-)

10.02.04

Ein trauriger Tag: Lothar, ein guter, alter Freund ist gegangen. Er war der Bremser im Team, ich der Heizer, und wir haben viel geschafft zusammen, in dieser Arbeitsteilung. "Die Entdeckung der Langsamkeit" wurde nur und ausschließlich für einen Mann geschrieben: Lothar eben. Er war einer von denen, denen Brecht Respekt gezollt hätte: Einer, der sein Leben lang kämpfte. Er hat dem Krebs nicht erlaubt, sein Wesen, seine Persönlichkeit zu verändern.

Gestern war ich bei ihm: Morgens wühlte er in seinem Bett, es ging ihm nicht gut. Die Schwester fragte, ob er Schmerzen habe, ob ihm übel sei, ob er Durst habe. "Ja," seine Antwort, "genau in dieser Reihenfolge!" Ein Scherz mit letzter Kraft... Ich sah Freund Lothar - und ich sah Freund Hein an seiner Seite. Mittags war er dann ruhiger, abgekämpft, er schwitzte.

Als ich ihn heute besuchen wollte, war sein Bett leer. Diese leeren Betten: Sie reißen einem Herz und Rückgrat aus dem Leib... Ein Leben lang war Lothar langsam - nun diese plötzliche Eile?

Stunden später, ich stehe in der Werkstatt und arbeite an einem Windspiel. Es klingt tief, sonor und schwingt unendlich lange nach - wie Lothar. Endlich kann ich weinen.

Ich werde Lothar an meinem Geburtstag beerdigen: Geburt und Tod, zwei Geschwisterkinder, die Hand in Hand unser Leben umkreisen.

26.01.04

Es erreichen mich besorgte Emails: Solche von Leuten, die erstmals realisieren, dass ich krank bin und solche, die sich über die aktuelle Veränderung Sorgen machen.

Ich war geschockt, als ich die Leukämiediagnose bekam - vor 10 Jahren. Ich lebe seitdem damit, und so soll das auch bleiben. Sicherlich werde ich eines Tages sterben, im Augenblick habe ich aber so viel um die Ohren, dass ich dazu einfach keine Zeit habe. Freund Hein hat sicherlich Verständnis dafür... ;-)

Natürlich ist eine Verschlechterung des Blutbildes immer auch mit einer Krise verbunden, aber sind es nicht die Krisen, die uns im Leben weiterbringen? Es geht uns gut, wir sitzen gemütlich auf dem Ofen und nichts könnte uns auf die Idee bringen, an diesem molligen Zustand etwas zu ändern. Erst der Mangel an Feuerholz und der damit verbundene Verlust der Gemütlichkeit zwingt uns dazu, in die Kälte zu gehen, Holz zu hacken und so die Voraussetzung für neue Gemütlichkeit zu schaffen. Wenn ich nun eine Agenda schreibe bedeutet das nicht, dass ich mit dem Leben abschließe oder in Panik bin: Die aktuelle Situation macht mir jedoch wieder einmal klar, dass mein Leben endlich ist. Vor diesem Hintergrund versuche ich, meine Prioritäten neu zu definieren um mich anschließend auf die wirklich wichtigen, vorrangigen Dinge zu konzentrieren. Ich kenne mich und weiß, dass ich diese Liste abarbeiten werde: Es ist nicht die Erste...;-)

20.01.04

Prima Klima draußen! Den Kompost umgestochen, eine herrlich erdige Sache. Und - aus lauter Vorfreude auf den Frühling - die Nistkästen gereinigt. Alle sieben Kästen waren im letzten Jahr belegt - wunderbar! Als ich den letzten Kasten öffne schießt mir ein kleiner Kugelblitz laut protestierend entgegen: Fast von der Leiter gefallen, so habe ich mich erschrocken. Wie heißt es doch: Der frühe Vogel fängt den Wurm! Offensichtlich mag der Herr die Morgensonne: Er hat sich die Villa mit Ostblick reservieren wollen... ;-)

19.01.04


- Galgenhumor - 

Einen Herpes zoster (Gürtelrose) wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht . Der einzige Trost: Es gibt Schlimmeres...

Ich wundere mich, wie sich die Sache zieht. Am 10. Dezember meinte ich noch, einen Hexenschuss zu haben, und nun, da der Januar sich schon dem Ende zuneigt, ist die Haut immer noch wund.

Es ist viel Arbeit liegengeblieben, und es fällt mir im Augenblick unendlich schwer, mich aufzuraffen: Sand im Getriebe...

Ich habe übrigens richtig gelegen mit meiner Vermutung, dass der Zoster nicht nur Krankheit, sondern auch Symptom ist: Von 15.000 Leukos im September stiegen die Werte Mitte Dezember auf 30.000, heute waren es schon 60.000. Im Dezember konnte ich noch spekulieren, der Anstieg sei auf den Infekt zurückzuführen, aber heute? Nein: Da ist was im Busch! Alle Zeichen deuten auf ein Rezidiv, ein stürmisches zudem: So habe ich die Werte noch nicht abzischen sehen.

Kein Körper kann aus eigener Kraft solch einen Berg von Tumorzellen bewältigen...

Als Krebspatient bin ich mir der Schlinge wohl bewusst, die jeder von uns vom Tage der Geburt an um seinen Hals trägt. Operationen, Chemotherapien - sie sind das Trampolin, das mir immer wieder neues Leben ermöglicht, vergleichbar meinem nicht zu beneidenden Kollegen oben.

Mich wundert die Ruhe und Gelöstheit, mit der ich hier sitze und schreibe. Die Dinge geschehen...  Mein Körper hat mir längst mitgeteilt, was vorgeht. Die Träume der letzten Zeit, Träume von kleinen Pannen, Dingen, die aus dem Ruder laufen. Der Druck, den ich auf einmal hinter meine Dissertation gesetzt habe. Die Tatsache, dass ich vorgestern eine Arbeitsliste, eine Agenda begonnen habe: Was hat Priorität? Was kann & muss ich tun, was können ruhig andere erledigen...

Wird sich nun etwas ändern? Ich lebe mein Leben... Was ich gestern tat, was ich heute tue werde ich auch morgen tun: Ich werde leben, lieben, arbeiten - wie immer. Ich lebe mein Leben, wie ich es für richtig halte und wie ich es mag. Es gibt keinen Grund, etwas zu ändern.

Ich werde also den Vortrag annehmen und ausarbeiten, um den ich gerade gebeten wurde. Und wenn ich ihn nicht selber halten kann, so weiß ich jemanden, der ebenso kompetent dieses Thema dem Auditorium anbieten kann. Ich werde in diesem Jahr weniger am Schreibtisch sitzen und mehr im Garten, in der Werkstatt, im Wald arbeiten. Ich freue mich auf die Auftritte mit der Band und darauf, mein Spiel auf der Bass zu verbessern. Und ich werde den Bogen von der Wand nehmen, wenn es die Temperaturen wieder erlauben.

Sicherlich: Es wird der Tag kommen, an dem ich mich morgens mit Beklommenheit in den Wagen setze, um zur Chemotherapie ins Krankenhaus zu fahren. Ich werde eine CD in den Schacht schieben, und auf dem Weg zum Krankenhaus wird sich "Hubert der Hasenfuß" in "Hubert the Brave", den tapferen Hubert verwandeln,  der bereit ist, den Kampf mit dem Krebs aufzunehmen. Ich werde mein persönliches "Cancer Combat Set" spielen, das ich zu Beginn der letzten Chemo zufällig auflegte und das mich so herrlich wütend machte. Ich werde wieder wütend in die onkologische Ambulanz stürmen, wütend auf diese blöden Krebszellen, die sich soviel Mühe geben, mich umzubringen. Und selbstverständlich werde ich mich bemühen, den Laden zum Lachen zu bringen: Die beste Medizin gegen den Krebs ist und bleibt das Lachen.

"Cancer Combat Set"? Das Set "Johnnie Cope - Brose and Butter - Jennie's Bawbee" wurde vom 1st. Battalion King's Own Scottish Borderers für die CD "Blue Bonnets O'er the Border" eingespielt. Es war dieses zufällig gewählte Set, das mich in dieser Situation so dermaßen in Rage brachte, dass ich meine Angst verlor.


 - Hubert the Brave -